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Mascha Kaléko und New YorkEs wird noch gedichtet

Dichterin Mascha Kaléko war ironisch und melancholisch zugleich. In New York hat sie Heimat gesucht. Ein Spaziergang auf ihren Spuren.

Die Minetta Street im Jahr 1935 Foto: Berenice Abbott/imago

Über ihr neues Zuhause schrieb Mascha Kaléko einmal: „‚Soso‘, sagen die Leute bewundernd, ‚… in Greenwich Village also wohnen Sie?‘ Und ihr Blick wird träumerisch.“ 1938, gewissermaßen in letzter Sekunde, war die jüdische Dichterin mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn aus Nazideutschland nach New York immigriert, um eine neue Heimat zu finden.

Die Beobachtungen und Gedanken, die sie dort auf ihren Spaziergängen durch das Greenwich Village und die Lower East Side sammelte, schrieb sie nieder. Erstmals veröffentlicht wurden die Texte 1963, gebündelt finden sie sich im Buch „Der Gott der kleinen Webefehler“, das aktuell nur noch antiquarisch erhältlich ist. Für diesen Text ist es Orientierung.

Aber dennoch, wo anfangen, wenn man sich auf die Spuren von Mascha Kaléko durch die Straßen des südlichen Manhattans begeben will? Die Texte führen einen zunächst in „New Yorks Eastside, wo sie am eastsidesten ist“, in die Straßen rund um die Delancey Street, einer armen Gegend, in der Kaléko „die kleinen Schuljungen mit den ewig zerfetzten Hosenböden“ beobachtet.

Heute ist davon wenig zu spüren. Wo die Jungen in Kalékos gleichnamigem Text zum „Gott der ‚kleinen Webefehler‘“ gebetet haben und aussortierte, fehlerhafte Kleidung für wenig Geld verkauft wurde, gibt es heute teure Modeläden, sowie auffallend viele Tattoo Studios, legen Pas­san­t:in­nen in charmanten Cafés einen Stopp für einen Smoothie ein. Wenn man das Viertel durchstreift, wird klar, „eastsidig“ bedeutet heute etwas anderes als damals.

Inzwischen kann man sagen, die gesamte Gegend ist gentrifiziert. Eine Entwicklung, die schon Kaléko spürt. Über die Delancey Street schreibt sie, dass die Straße selbst „mittlerweile Karriere gemacht“ habe, dort sei es „businesslike“ und „beinahe tadellos“: „Die Kleiderpuppen in ihren Konfektionsläden tragen bereits das gleiche standardisierte Lächeln im Pappgesicht wie uptown.“ Die „Armseligkeit der zurückgebliebenen Kramlädchen“ in der angrenzenden Orchard Street mache das „nur noch armseliger“.

Heute lebt die jüdische Bevölkerung in anderen Vierteln

Zu Kalékos New Yorker Zeiten lebten dort „die ‚Juden ohne Geld‘“. Seit Ende des 19. Jahrhunderts waren viele Jü­d:in­nen aus Osteuropa in die Lower East Side immigriert, wo bis dahin vor allem Emi­gran­t:in­nen aus Irland lebten. 1915 stellten jüdische Menschen in dem Viertel knapp 60 Prozent der Bevölkerung.

Wenn Mascha Kaléko durch die Lower East Side spaziert, kann sie koschere Delikatessen kaufen, hört sie neben Englisch auch Italienisch und Jiddisch. „Das war früher“, sagt Jason, ein Mann mit langen Haaren, der im Café Trapizzino in der Orchard Street Pasta und italienisches Streetfood serviert. Er erklärt, dass die jüdische Bevölkerung heute in anderen Vierteln lebt.

Anderes ist geblieben. Wie der Süßigkeitenladen in der Rivington Street, der mit seinen überquellenden, altmodischen Bonbonregalen noch immer das „Paradies voll Zahnweh-Zuckerzeug“ ist, das Kaléko beschreibt. Economy Candy gibt es seit 1937, es ist heute einer der ältesten Candy Shops der Stadt. Auf die Frage hin, ob sie die Dichterin kennt, schüttelt eine Verkäuferin den Kopf.

Manche jüdische Lokale gibt es noch in der Lower East Side

Schon zu Lebzeiten war Kaléko in Deutschland wesentlich bekannter. Jutta Rosenkranz schreibt in ihrer Mascha-Kaléko-Biografie, dass die Dichterin während ihrer Zeit in den USA unter Pseudonym zeitweise Werbetexte für Büstenhalter und Parfum schrieb, um Geld zu verdienen. In einigen ihrer Gedichte merkt man, dass Kaléko sich zurück nach Berlin sehnte, spürt die Melancholie, für die Kaléko neben ihrer heiteren Leichtfüßigkeit berühmt ist. So etwa in „Der kleine Unterschied“:

Es sprach zum Mister Goodwill ein deutscher Emigrant:

Gewiß, es bleibt das selbe,

sag ich nun land statt Land,

sag ich für Heimat homeland

und poem für Gedicht.

Gewiß, ich bin sehr happy:

Doch glücklich bin ich nicht.“

Das „Moishe’s Jewish Pumpernickel“, das Kaléko in einem ihrer Spaziergänge als „‚ärztlich empfohlen‘“ beschreibt, bekommt man in der Rivington Street nicht mehr. Ein paar Blöcke weiter östlich jedoch findet sich noch eine Filiale der Moishe’s Bakery in der Grand Street, die vom East Broadway abgeht.

wochentaz

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Versteckt hinter einem Gerüst liegt das Geschäft mit dem Pumpernickel und allerlei süßem Delikaten, etwa dem Schokoladenhefekuchen Chocolat Babka, wegen dem manche heute extra in diese Ecke der Stadt kommen. Ein Mann mit schwarzem Zylinder und Schläfenlocken tritt gerade zur Tür heraus.

Einzelne jüdische Lokalitäten existieren in der Lower East Side also doch noch. Darunter auch die wohl bekannteste, das Delikatessenrestaurant Katz. Dort stehen sich die Menschen am Eingang in der Ludlow Street bis zur nächsten Querstraße beim Warten auf Pastrami-Sandwiches und Gefilte Fisch die Beine in den Bauch.

An Kalékos ehemaligen Haus hängt eine Gedenkpalette

Ins Greenwich Village gelangt man von der Lower East Side, wenn man die Houston Street nach Westen läuft. „Mascha achtet darauf, nicht in ein Exilanten-Viertel zu ziehen, um ihrem Sohn die Integration zu erleichtern“, erklärt Rosenkranz in ihrer Biografie. Die Dichterin habe in verschiedenen Wohnungen gelebt, ab 1942 in der Minetta Street – einer zarten Seitenstraße, die von der dichtbefahrenen 6th Avenue abgeht.

An Kalékos ehemaligem Wohnhaus, einem roten, unauffälligen Backsteinhaus, hängt auch eine Gedenkplakette. Die Dichterin schlug die Adresse zu Lebzeiten selbst in einem Gedicht als Ort für eine solche vor:

Tja, welches vom M.K.’s Quartieren

Soll die Hier-wohnte-Tafel …?“

Ich stimme für Minetta Street.

In einem ihrer Spaziergänge beschreibt Kaléko die italienischen Restaurants, die rund um die Straße liegen: „Die Tea Shops schossen aus dem Pflaster wie Pilze, und die kleinen Pizzerias füllten sich mit Ravioli schmatzenden Künstlern und solchen, die es scheinen wollten.“ Einiges erinnert dort heute noch an Italien, manchmal riecht es bis auf die Straße bestechend nach Pecorino. Und auch den Jazzclub Vanguard, über den Kaléko schreibt, dass dort die „kühnsten Songs offeriert“ wurden, gibt es noch.

Im Greenwich Village wird noch heute gedichtet

Läuft man in Richtung Washington Square, hört man Rollkofferrollen, lautes Gehupe, Lachen, Taubengegurre. Viele Menschen spielen auf dem Square Schach. Man könnte sagen: Das Leben glüht dort der Sonne etwas vor. In Wasserfontänen bilden sich Regenbögen.

Und: Dort wird noch gedichtet. Das Greenwich Village war zu Kalékos New Yorker Zeiten ein Künst­le­r:in­nen­vier­tel und ist es bis heute. Ein junger Mann, der sich als Blue Jay Walker vorstellt erklärt: „Der Washington Square Park ist ein historischer Ort für Künstler:innen, die keinen Zugang zu Galerien haben. Es gibt hier Künst­le­r:in­nen ganz verschiedener Richtungen und auch Poet:innen.“

Am Square versuchen sie ihre Kunst unter die Menschen zu bringen, neben Ständen, an denen Tarotkarten gelegt werden. Sie lebten aufgrund der gestiegenen Mieten nicht in Greenwich Village, sagt Blue Jay Walker. Er hält eine dicke Rolle Papier in den Händen, das er mit einer Schreibmaschine vollgetippt hat – ein ewig langes Gedicht. „Ich habe fünf Tage daran geschrieben.“ 150 feet, sagt Walker, sei sein Gedicht lang. Fast 50 Meter sind das.

Kalékos aus dem Alltag gegriffene Gedichte wirken auch extrem spontan – aber gerade in ihrer Kürze hat für die Dichterin wohl die Schönheit gelegen. Rosenkranz betont, sie habe „die kleinen Momente des Alltags und der Emotionen […] in wenigen Zeilen auf den Punkt gebracht.“ Und Kaléko selbst schrieb:

Mein schönstes Gedicht

Ich schrieb es nicht.

Aus tiefsten Tiefen stieg es

Ich schwieg es.

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2 Kommentare

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  • D a n k e !

  • Wunderschöner Text über eine der wenigen Dichterinnen, die ich kenne, und die wie meine andere mir bekannte Gefühle klarsichtig umschrieb, etwa in "Mit auf die Reise".

    Ich nahm das mit einem meiner Nachhilfeschüler durch (so kam ich auf Kaléko) und ließ ihn die von mir beeinflusste Interpretation schreiben. Beim nächsten Treffen erzählte er, er sei der einzige gewesen, der es so sah, auch seine Lehrerin habe es anders interpretiert. Dabei war mir überhaupt nicht klar, wie man es anders lesen könnte.