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Martin Schulz will Agenda 2010 justierenGegenwind für die Reform der Reform

Kanzlerkandidat Martin Schulz will eine „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“. Die CDU ist entsetzt, Arbeitgeber ebenso.

Martin Schulz will die Fehler von Schröders Agenda 2010 ausbügeln – ein bisschen Foto: dpa

Würzburg/Berlin rtr | SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz stößt mit seinen Vorschlägen für eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes bei gleichzeitiger Qualifikation auf ein geteiltes Echo. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) lobte die Vorschläge, mit denen Schulz seine Änderungswünsche an der Reformagenda 2010 konkretisierte, als richtigen Ansatz. Die Arbeitgeberverbände nannten das von Schulz und Arbeitsministerin Andrea Nahles erarbeitete Konzept dagegen rückwärtsgewandt. Auch von Union, Linken und Grünen kam Kritik.

Der Chef der Unionsfraktion, Volker Kauder, warf Schulz vor, mit dem Vorstoß die falschen Prioritäten zu setzen. Nötig sei stattdessen eine „gewissen Flexibilität“ im Arbeitsrecht.

Auslöser der Debatte ist ein unter der Federführung von Nahles ausgearbeitetes Konzept für Arbeitsmarktreformen. Der Plan, der der Nachrichtenagentur Reuters vorliegt, soll am Montag dem SPD-Vorstand vorgelegt werden, wie Schulz bei einer SPD-Regionalkonferenz am Samstag in Würzburg ankündigte.

Er sieht unter anderem eine längere Zahlung von Arbeitslosengeld I vor, vorausgesetzt, dass die Erwerbslosen an einer Qualifizierungsmaßnahme teilnehmen. Für die Dauer der Qualifizierung soll ein neues „Arbeitslosengeld Q“ eingeführt werden, dass ebenso hoch wie das Arbeitslosengeld I ist, aber nicht auf dessen Bezugsdauer angerechnet wird. Die Bundesagentur für Arbeit soll gesetzlich verpflichtet werden, Arbeitslosen ein Qualifizierungs-Angebot zu machen, wenn sie innerhalb von drei Jahren keine neue Beschäftigung finden. Zudem soll die Schwelle für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I verringert werden. Für Hartz-IV-Bezieher soll der Vermögensfreibetrag erhöht werden, der nicht auf die Grundsicherung angerechnet wird.

Schulz selbst verteidigte in Würzburg seinen Ansatz, die Reformen der Agenda 2010 in Teilen zu korrigieren. Als diese entworfen wurde, habe es über fünf Millionen Arbeitslose gegeben, argumentiert er. Heute aber sei das Kardinalproblem ein wachsender Fachkräftemangel. Damit rücke Qualifizierung ins Zentrum. „Heute ist das Schlüsselwort, egal wo in der Welt der Arbeit, Qualifizierung und Weiterbildung“, sagte er.

Für Hartz-IV-Bezieher soll der Vermögensfreibetrag erhöht werden, der nicht auf die Grundsicherung angerechnet wird

Er kündigte an, die Bundesagentur für Arbeit zu einer „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ weiterzuentwickeln. „Wir wollen auch, dass es einen Rechtsanspruch für Qualifizierung gibt“, ergänzte er. Das diene dem Ziel, wirtschaftlich stark zu halten. In SPD-Kreisen wurden die Kosten der Konzept auf rund eine Milliarde Euro im Jahr zulasten der Arbeitslosenversicherung veranschlagt.

In den eigenen Reihen stieß Schulz auf viel Unterstützung. Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft forderte im „Deutschlandfunk“ zudem grundlegende Regelungen, um die Befristung von Arbeitsverhältnissen ohne Grund einzudämmen. SPD-Generalsekretärin Katarina Barley betonte die Notwendigkeit, die Arbeitsmarktreformen aus dem Jahr 2003 auf den Prüfstand zu stellen und zu modernisieren. Der SPD-Parteilinke Matthias Miersch nannte es gut, dass Schulz und Nahles die Initiative übernähmen und einen ersten konkreten Schritt für mehr Sicherheit und Zusammenhalt gingen.

Unions-Politiker Kauder nannte die Verteidigung der weltweiten Spitzenstellung Deutschlands in Technik und Produktion die Hauptaufgabe der Politik, nicht die Länge des Arbeitslosengeldes I. Schulz warf er in der „Welt am Sonntag“ vor: „Heute redet der SPD-Kanzlerkandidat das Land schlecht, so wie man es sonst von (den Linkspolitikern) Frau Wagenknecht und Herrn Lafontaine gewohnt ist.“ Der Vize-Chef der CSU-Landesgruppe, Hans Michelbach, nannte die SPD-Pläne völlig realitätsfern.

Grüne sehen Hartz IV-Empfänger benachteiligt

Heftige Kritik äußerte auch der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter. „Deutschland braucht in seiner Arbeitsmarktsituation eine Arbeitsmarktpolitik, die auf zukünftige Herausforderungen vorbereitet, anstatt Debatten der vergangenen Jahrzehnte wiederauferstehen zu lassen.“ Statt Rechtsansprüchen auf staatliche Leistungen brauche es faire Rahmenbedingungen für die betriebliche Fort- und Weiterbildung. Dagegen sprach DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach von einem „richtigen Ansatz, den Schutz der Arbeitslosenversicherung zu verbessern.“

„Es reicht nicht, das Arbeitslosengeld I zu verlängern“, bemängelte dagegen Linken-Parteichefin Katja Kipping. Sie forderte gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe eine „Gerechtigkeitswende“ weg von der Agenda-Reform. Von den Grünen kam neben Kritik auch Lob. „Es ist gut, dass Schulz auf die kritischen Stimmen gehört hat und die Verlängerung des Arbeitslosengeld-I-Bezugs an Qualifizierung koppeln will“, sagte deren arbeitsmarktpolitische Sprecherin Brigitte Pothmer. Das große Manko von Schulz' Konzept sei aber, dass Bezieher von Arbeitslosengeld II davon nichts hätten. „Damit fallen fast zwei Drittel aller Arbeitslosen hinten herunter“, beklagte sie.

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12 Kommentare

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  • Die Behauptung, dass die älteren Arbeitslosen unqualifiziert wären, ist nicht immer richtig.

     

    Auch SPD denkt immer klassisch, als ob alle Arbeitslosen ohne Schulabschluss als Hilfsarbeiter tätig wären, die man weiter qualifizieren muss.

     

    Viele diese Menschen sind Akademiker, die auch mit den neuen Technologien (Digitalisierung etc.) ihre Tätigkeiten ausgeübt haben.

     

    Vor allem die Selbstständigen bzw. Freiberufler, die keine Aufträge mehr bekommen, müssen zunächst ihre Altersversorge (Lebensversicherungen etc.) komplett ausgeben, so dass sie im Rentenalter nichts mehr haben.

     

    Wenn sie Pesch haben, stecken sie vielleicht auch in einem Insolvenzverfahren, so dass sie nicht mal ein Konto besitzen, oder Kranken versichert sind.

     

    Von den Qualifizierungsmaßnahmen profitieren lediglich die Unternehmen, die diese Maßnahmen anbieten.

     

    2 Monate Qualifizierungsmaßnahme kostet der Arbeitsagentur ca. 3 Tausend EURO.

    Der Teilnehmer muss immer auf der Matte stehen und bekommt Fahrtgeld rückerstattet.

     

    Danach ein schönes zwei farbiges Zertifikat, das man direkt wieder in die Mülltonne werfen kann.

     

    Ein 55 jährige Grafiker, Fotograf oder Architekt ist nicht mehr attraktiv für den Arbeitsmarkt, egal welche Qualifikationen er/sie hat.

    • @benokay:

      Sehr richtig. Die zahl der Hochqualifizierten unter den Arbeitslosen hat ständig zugenommen. Neue Arbeitsplätze schafft aber die beste Ausbildung von potentiellen Mitarbeitern nicht. Eine Firma, die den Arbeitskräftebedarf gedeckt hat, stellt nicht zusätzliche Kräfte ein, nur weil die so hoch qualifiziert sind. Allenfalls kann den Menschen damit was an die Hand gegeben werden, um einen Konkurrenten auszustechen, der dann halt arbeitslos wird.

       

      Eine Qualifizierungsoffensive soll den Arbeitsmarkt retten? Da ist wahrhaftig erfordelrich, mal darzustellen, was die Qualifizierung leisten kann udn was eben nicht.

       

      Und es muss vermieden werden, dass unter vornehmer Sprachwahl Arbeitslose indirekt wieder als faule Schmarotzer diskriminiert werden. Es wäre an der SPD und dem Kandidaten Schulz, das mal offensiv zu sagen. Es gilt ja auch eine Wiedergutmachung für SPD-Größen zu leisten, die wortwörtlich und undifferenziert wie AfD-ler von Arbeitslosen als Schmarotzern sprachen.

  • 3G
    36120 (Profil gelöscht)

    "Volker Kauder: Nötig sei stattdessen eine „gewissen Flexibilität“ im Arbeitsrecht." -

     

    Wie flexibel denn noch? Bis man Arbeitnehmer hat, die lieber Harakiri begehen, als einen guten Lohn zu verlangen oder Arbeitlsoengeld zu beantragen?

    • @36120 (Profil gelöscht):

      Die Frage lässt sich leicht beantworten: Angeblich schafft es nach der CDU Arbeitslplätze, wenn Arbeitnehmer von einem Tag auf den anderen wieder gefeuert werden können. So wie es in den USA mit einem feuchten Händedruck auch von einem Tag auf den anderen Heißen kann: "War schön mit Ihnen!"

       

      Allerdings sehen wir aus vergleichenden Statistiken mit anderen, dass da nicht den Arbeitslosen mit gedient ist, wenn sie schnellstens wieder rausgeworfen werden können. Im Gegenteil: Der jOb und seine Vergütung bleiben damit während des gesamten Arbeitsverhältnisses unter Druck. Andere Behauptungen sind nicht Meinung sondern angesichts der vorliegenden statistischen Daten Fake-News zu Gunsten der Arbeitgeber.

  • Da freut man sich doch auf das nächste Haushaltsloch mit steigender Arbeitslosigkeit.

  • Schulz sagt nichts zu Hartz IV oder dem Mindestlohn - warum wohl? Weil die SPD die Wähler, die davon betroffen sind, schon lange abgeschrieben hat. Die gehen entweder gar nicht zur Wahl, oder wählen nicht die SPD. Schulz konzentriert sich mit seinen Forderungen auf die verängstigte Mittelschicht, die sich vor dem Abstieg fürchtet. Ach ja und das Märchen mit der Weiterbildung für ältere Arbeitslose. Das erhöht bei Ü-50 kaum die Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

    Fazit: Die SPD bleibt letztlich auf dem Kurs, den einst Schröder eingeschlagen hat - Neokonservativ nur jetzt mit sozialem Trostpflaster...

  • "Das große Manko von Schulz' Konzept sei aber, dass Bezieher von Arbeitslosengeld II davon nichts hätten. „Damit fallen fast zwei Drittel aller Arbeitslosen hinten herunter“, beklagte sie."

     

    Ja, das ist eben die Strategie: Spalten statt Schlichten in Anlehnung an Johannes Rau. Die SPD ist eben nur halbgar, innen blutig.

     

    Das Ganze ist dazu noch eindeutig eine Wahlkampfstrategie: Sie soll die SPD linker wirken lassen und Abgrenzung zur CDU schaffen, was sie ja schon tut.

     

    Ich glaube aber nicht, dass es am Ende aufgehen wird.

     

    Kein Mensch kann von Hartz-IV normal leben - das ist Armut und Ausgrenzung nach Programm - ein Ergebnis der SPD-Politik.

     

    Das wird der SPD vorgehalten werden und zwar zu recht. Die SPD muss das auch ehrlich ohne Wahlkampf und Medien ernsthaft betreiben. Vielerorts wird das Gegenteil gemacht - die Wirtschaft zählt, der Mensch nicht (mehr).

  • 7G
    7964 (Profil gelöscht)

    Warum gehen wir überhaupt so furchtbar miteinander um?

    15 Mio Menschen in der BRD bekommen gerade sich selbst irgendwie mehr schlecht als recht über die Runden.

    Auf der anderen Seite gibt es immer mehr fünfstellige Monatseinkommen.

     

    Das alles ohne Dürrekatastrophe, ohne Überschwemmungen, ohne Krieg im Land. Diese Lage ist menschengemacht. Warum lassen wir das zu?

  • Ich finde den Ansatz mit dem "Arbeitslosengeld Q" schlüssig und sinnvoll. Sollte so oder so ähnlich gemacht werden. Qualifizierungen älterer arbeitsloser FacharbeiterInnen wieder ernsthafter und ohne Zeitdruck zu betreiben ist sogar überfällig.

     

    Ein viel größerer Knackpunkt ist aber, vor allem für den prekäreren Teil der Arbeitssuchenden, die Zeitarbeit, vor allem in Punkto Bezahlung. Da muss geändert werden auch mit Blick auf die Praxis teilweise in anderen Ländern Zeitarbeit tendentiell sogar höher zu bezahlen als die der Stammbelegschaft als Bonus für die Flexibilität der AbeitnehmerInnen. Würde dann noch das AlG 2 weniger retriktiv vergeben hätte man dann zusammen mit einem steigenden Mindestlohn der Agenda 2010 die schlimmsten Giftzähne gezogen.

     

    Die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe und somit die direkte Ansprechbarkeit der SozialhilfeempfängerInnen durch die Arbeitsvermittlung halte ich dagegen nach wie vor grundsätzlich für richtig.

    • @Waage69:

      Sozialhilfe gibt es immer noch! Da ist seit den Hartz-Reformen allerdings nur noch für definierte "Erwerbsunfähige". Problem ist hier: Die Jobcenter versuchen einerseits so viel wie möglich Arbeitslose eben in diese Erwerbsunfähigkeit (sprich: Rente) zu drängen, um somit die Arbeitslosenzahlen scheinbar zu senken. Andererseits wollen die Sozialämter natürlich diese wiederum nicht und denen, die dann doch dort (unfreiwillig) landen, stehen keinerlei Fördermöglichkeiten mehr zu. Auch sind die Freibeträge dort noch niedriger.

       

      Absurd wird es, wenn Menschen, denen es aus gesundheitlichen Gründen sehr schlecht geht, selbst eine Erwerbsunfähigkeitsrente beantragen, diese aber nicht (ohne Anwalt und Klagen) bekommen und weiter im ALG-II-Bezug bleiben müssen samt Förder- und Bewerbungsschikanen.

       

      Nach wie vor läuft das ganze Paket also nicht rund, sondern hat viel mit Willkür und wegschieben zu tun, damit die Statistiken stimmen.

    • @Waage69:

      Ja, liebe WAAGE69: Das und nichts anderes:

       

      "Qualifizierungen älterer arbeitsloser FacharbeiterInnen wieder ernsthafter und ohne Zeitdruck zu betreiben ist sogar überfällig.(...)"

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    Wenn ich mich gut entsinnen kann, wurde auch bisher bei einer Q-Maßnahme die Bezugsdauer von ALG I verlängert. Bin nicht ganz sicher, ob das nicht nur für nahtlosen Übergang gegolten hat. Für solche Menschen blieb also alles beim Alten.

     

    Jetzt sollte also eine Q-Maßnahme (und folgerichtig) ALG I verbindlich gelten, wenn der Betroffene nach 3 Jahren keine neue Beschäftigung findet. Für die meisten Betroffenen würde wohl eher gelten:

     

    1)Arbeitsagentur findet schon was ;)

    2)Nach 3 JAhren, davon evtl. 1-2 Bezug von ALG II, sind dann die evtl. Rücklagen verbraucht und die evtl. erneute Bewilligung von ALG I nicht gerade viel ausmacht.

     

    Ich sehe da Vorschläge für Scheinreformen, die Scheinkämpfe auslösen, die Scheinunterschiede kreieren sollten.

     

    Wie oft stimmt man schon mit der "Welt" überein? https://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article162372367/Das-grosse-Gaehnen.html