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Mario Draghi nennt Erdoğan DiktatorPlötzlich Klartext

Eric Bonse
Kommentar von Eric Bonse

Er war lange ein Mann des Geschwurbels. Jetzt nennt Mario Draghi plötzlich Dinge beim Namen – während Europa nicht mal um einen Stuhl bitten kann.

Mario Draghi hat deutliche Worte gefunden und damit die türkische Regierung erbost Foto: Pool Augusto Casasoli/Insidefoto/imago

M an kannte ihn als Herrn des Geldes – und als Meister der Anspielungen. Als Mario Draghi noch Chef der Europäischen Zen­tral­bank in Frankfurt war, musste er jedes Wort auf die Goldwaage legen. Ein falsches Adjektiv, eine vieldeutige Andeutung – und schon konnte der DAX in den Keller rauschen und der Euro in Gefahr geraten. Draghi wusste das und redete wie das Orakel von Delphi: unverständlich.

Umso mehr überrascht nun die Deutlichkeit, mit der Draghi – mittlerweile Premierminister von Italien – über Recep Tayyip Erdoğan spricht. Einen „Diktator“ hat er ihn genannt und damit Entrüstung in der Türkei ausgelöst. Der türkische Außenminister ­Mevlüt Çavuşoğlu verurteilte Draghis „hässliche und maßlose Äußerungen“ aufs Schärfste – und forderte Draghi auf, sie zurückzunehmen.

Aber was ist Erdoğan bitte sonst – wenn nicht ein Diktator, der die Presse knebelt, die Opposition gängelt und in fremde Länder einmarschiert? Draghi kommt das Verdienst zu, das laut und deutlich ausgesprochen zu haben. Für diesen Klartext wurde es höchste Zeit. Appeasement gegenüber Erdoğan und seinem islamischen Regime hat es genug gegeben.

Dieses Appeasement hatte zuletzt völlig absurde Formen angenommen. Wie Bittsteller waren EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel nach Ankara gereist, wo sie Erdoğan zur Audienz empfing. Wie Amateure fügten sie sich in das türkische Protokoll, das für Michel einen Chefsessel neben Erdoğan vorsah und für von der Leyen einen Platz auf der Couch – protokollarisch entspricht das dem Katzentisch. Aber weder Michel noch von der Leyen wagten es, von Erdoğan einen weiteren Sessel zu fordern. Von der Leyen machte von ihrem Sofa aus dem Gastgeber allerlei Versprechungen.

Seither diskutiert ganz Brüssel über das #Sofagate“ und die Erniedrigung der „Ersten Dame“ der EU – nicht aber über Erdoğans Diktatur und Europas Komplizenschaft. Draghis klare Worte bieten die Chance, nun endlich auf den Punkt zu kommen. Dafür müssten allerdings auch noch andere EU-Politiker mitziehen. Angela Merkel und Heiko Maas, wie halten Sie es eigentlich mit dem Diktator?

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Eric Bonse
EU-Korrespondent
Europäer aus dem Rheinland, EU-Experte wider Willen (es ist kompliziert...). Hat in Hamburg Politikwissenschaft studiert, ging danach als freier Journalist nach Paris und Brüssel. Eric Bonse betreibt den Blog „Lost in EUrope“ (lostineu.eu). Die besten Beiträge erscheinen auch auf seinem taz-Blog
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3 Kommentare

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  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    "Einen „Diktator“ hat er ihn genannt und damit Entrüstung in der Türkei ausgelöst. "

    So ist es - in gleicher Linie mit Lukaschenko. Der eine wirft massenhaft die Leute ins Gefängnis, der andere prügelt gerne auch Frauen.

  • Das türkische Propagandaorgan TRT (deutsche Ausgabe) versteigt sich zu der Formulierung: „Die Türkei verurteile die Bemerkungen des „ernannten“ italienischen Ministerpräsidenten über Präsident Erdoğan, der mit einer deutlichen Mehrheit gewählt worden sei, hieß es weiter.“



    Dem gleichen Irrtum erlag einst der ehemalige Staats- u. Parteichef der ehemaligen DDR, Erich Honecker. Aus der Tatsache, dass er immer mit >99% gewählt wurde, entnahm er fälschlich, dass seine Zustimmung im Volk ähnlich hoch sein müsse. Dabei war es nur das Fehlen einer legalen Opposition, die zu einem derartigen Ergebnis führte!

    • @Pfanni:

      Ihr Kommentar ist absolut zutreffend!