Maren Wursters neue Bücher: Getrennt und doch verbunden

Prosa vom Anfang und Ende des Lebens: Maren Wursters Roman „Eine beiläufige Entscheidung“ und ihr Essay „Totenwache“.

Portrait der Autorin Maren Wurster, Frau mit langen blond-gräulichen Haaren und roten Lippenstift

Hat gleich zwei neue Bücher veröffentlicht: Die Autorin Maren Wurster Foto: Paula Winkler

Zuletzt sind fast zeitgleich zwei Bücher von Maren ­Wurster erschienen, die scheinbar an völlig entgegengesetzten Punkten des Lebens ansetzen. Ihr Essay „Totenwache“ beschreibt ein Ritual des Abschiednehmens nach dem Tod ihres Vaters, verknüpft mit philosophischen und praktischen Überlegungen zum Umgang mit Sterben und Verlust. Der schmale Roman „Eine beiläufige Entscheidung“ hingegen erzählt sowohl von einer Mutter, die Mann und Baby verlässt, als auch, gut 15 Jahre später, aus der Perspektive ihres inzwischen herangewachsenen Sohnes.

Schon 2021 hat die 1976 geborene Autorin mit „Papa stirbt, Mama auch“ ein autofiktionales Buch veröffentlicht, das drängend und dicht vom Altern, von Krankheit und der Überforderung aller Beteiligten erzählte. Als Maren Wurster ihre Eltern – die Mutter ist dement, der Vater hat Krebs – aus dem Schwäbischen nach Berlin holt, dort in Pflegeheim und Krankenhaus unterbringt und besucht, ist sie zugleich alleinerziehende Mutter eines Kleinkindes. Die intensive, fordernde Erfahrung dieser Doppelrolle hat zweifellos auch für die nachfolgenden Buchprojekte eine Rolle gespielt.

„Eine beiläufige Entscheidung“ lässt sich von zwei Seiten lesen. Jede hat ihren eigenen Umschlag, der auf den ersten Blick identisch aussieht, aber die Fotografien einer Frau und eines jungen Mannes schwarz-weiß und in Farbe je unterschiedlich übereinander legt. Konrads Erzählung ist länger als die seiner Mutter; er erzählt aus der Ich-Perspektive, während Wurster für Lena die personale Erzählform wählt. Beide Geschichten laufen aufeinander zu und sind nur durch ein Blatt getrennt.

Konrad setzt mit frühesten Erinnerungen ein. Sie gelten Una, der irischen Studentin, die nach Lenas Fortgang auf ihn aufpasst, schlagen einen schlichten, poetischen Ton an und skizzieren verdichtet das Drama, in dem Konrad aufwächst: Das innige Verhältnis zu Una wird durch die Information irritiert, dass sie nicht seine richtige Mama ist. Konrad schlägt dem Kind, das dies im Sandkasten behauptet, seinen Bagger ins Gesicht.

Maren Wurster: „Eine beiläufige Entscheidung“. Hanser.Berlin, Berlin 2022, 160 Seiten, 22 Euro

Maren Wurster: „Totenwache“. Leykam, Graz 2022, 144 Seiten, 20,50 Euro

Der 16-Jährige schneidet sich den Daumen ab

Sprung in die jüngste Vergangenheit des Ich-Erzählers: Konrad berichtet, wie es dazu kam, dass er sich als 16-Jähriger auf dem Quellspring, einem Internat für Kinder wohlhabender, vielbeschäftigter Eltern, den Daumen abgeschnitten hat. Der Ton ist nun härter und entschieden selbstbewusst, so wie der hochfahrende junge Bildhauer, der hier seine ersten Konturen zeigt.

Denn Konrad arbeitet leidenschaftlich gerne mit Holz, wird darin von seinen Lehrern unterstützt bis hin zu einer neu angeschafften Motorsäge. Gleichzeitig geht der Dampf, unter dem Konrad steht, über den schieren Schöpferdrang hinaus – Fragen nach seiner abwesenden Mutter ploppen immer wieder auf, sein Vater Robert glänzt durch Abwesenheit, dafür verbindet ihn mit seinem Zimmergenossen Kaspar mehr als Freundschaft, nämlich stürmischer, inniger Sex. Als Kaspars Familie überraschend mit ihm nach Hongkong zieht, er Konrad also verlässt, geschieht der Unfall. Oder war es Selbstverletzung?

„Als der tiefrot eingesuppte Verband abgewickelt war, betrachte ich meinen Stumpf. Er war schräg abgetrennt und blutete nicht mehr, die Haut war teigig und am Rand eingerissen, dann kam schwulstiges Gewebe, das aussah wie das Fett eines Hühnchens, in der Mitte dann, vom geronnenen Blut schwarz, der Knochen.“

Gerade wenn es um die Verletzlichkeit des Körpers geht, sieht Maren Wurster sehr genau hin, als ließe sie sich so bannen. Das war schon in „Papa stirbt, Mama auch“ der Fall. Schmerzende, kaputte Körperteile sind es wiederum, die die Geschichten von Mutter und Sohn verbinden. Bei Lena entzündet sich die Brust, die Konrad nähren sollte: „Das waren keine vollen Milchbrüste mehr, sie fühlten sich an wie mit Steinen gefüllte Lederbeutel.“

Lenas Geschichte setzt ein, kurz nachdem sie Konrad und dessen Vater Robert verlassen hat und sich mit hohem Fieber ins Ferienhaus von Roberts Familie zurückzieht – es taucht auch in Konrads Erzählung auf, als Rückzugsort nach dem Unfall, an dem er eigenständig seine künstlerische Arbeit aufnimmt.

Immer krassere Schieflage

Im Wechsel zwischen Ferienhausgegenwart und Rückblick schildert Wurster, wie die von Sex und Arbeit erfüllte Liebe zwischen der Modedesignerin und dem Manager durch Lenas Schwangerschaft – im Schwangerwerden liegt weit eher die „beiläufige Entscheidung“ als im Verlassen von Mann und Kind – in eine immer krassere Schieflage gerät, wie Robert sich kühl weigert, von seinem bisherigen Lifestyle abzusehen und sich fürsorglich um Frau und Sohn zu kümmern.

Es liegt nahe, den Vater als den Schurken auszumachen, zumal er gleichsam durch die ihm zugewiesene Nebenrolle ohne eigene Perspektive bestraft wird. Was womöglich seinem realen Einsatz entspricht: Für Konrad ist Robert ein ausschließlich materieller Versorger, der längst eine neue Familie in Kanada gründet; für Lena, die selbst mit einer unmütterlichen Mutter aufwuchs, entpuppt er sich als falsche Partnerwahl für ihr Familienprojekt, wie sie schmerzlich erkennt.

In vielen sorgfältig komponierten Details verschränkt Wurster die beiden Perspektiven so, dass sie sich, in welcher Reihenfolge auch gelesen, wechselseitig beleuchten, spiegeln und erhellen, bis hin zu Trost und Heilung, die sich sowohl für Konrads schwer lokalisierbare Wut als auch für Lenas verzweifelte Hilflosigkeit eröffnen.

Für den Sohn etwas mehr als für seine Mutter: Nicht nur der Daumen wächst dank eines neuen medizinischen Verfahrens wieder an, auch Una, die gerade ein eigenes Baby verloren hat, hält an ihrer sozialen Mutterschaft fest. Bei Lena wiederum nimmt der Text für einen Moment literarischer Willkür eine fast magische Wendung: In einer Zeitfalte (!) bestaunt sie Konrads Holzskulpturen, die es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geben kann.

Natürlich kann man Maren Wursters Schreiben unter Care-Literatur oder Regretting Motherhood verschlagworten und wird doch der existenziellen Neugier und Durchlässigkeit, mit der die Autorin sich in Verlusterfahrungen hineinbohrt, nicht ganz gerecht. Das gilt auch für das weniger künstlerische, dafür informative und lebenskluge Buch „Totenwache. Eine Erfahrung“ über das Sterben ihres Vaters und die darauffolgende dreitägige Totenwache, die Wurster mit Mutter und Sohn an seinem Bett hält. Auch hier geht es um die Frage, welche Verbindungen sich nach unwiderruflichen Trennungen neu etablieren lassen.

Im Sterben sind nicht alle gleich

Im Vergleich zum autofiktio­nalen Vorgänger „Papa stirbt, Mama auch“ breitet Wurster in „Totenwache“ ihr Material schon mit Distanz zum Erlebten aus: einerseits die sehr persönliche, ja intime Erfahrung der Sterbebegleitung und Übergangsrituale, andererseits der Versuch, das Private gestützt von Lektüren und Recherchen ins Allgemeine zu öffnen. So diskutiert Wurster etwa das Bonmot, dass im Tod alle gleich seien, indem sie diese Gleichheit zumindest für das Sterben ausschließt. Es macht einen gewaltigen Unterschied, auch für die Hinterbliebenen, ob zu Hause, im Hospiz, Altersheim oder Krankenhaus gestorben wird, ob mit palliativem Beistand oder ohne.

So betrachtet stirbt Wursters Vater einen privilegierten Tod, umsorgt von professionellen Pflegerinnen und einer Tochter, die die Situation mit höchster Intensität erlebt. „Nur meinen Sohn als Baby habe ich so ausgiebig angesehen, so zufrieden und glücklich, so hemmungslos, auch bedingungslos“, schreibt sie vom Totenbett. Bestärkt und beraten von der Berliner Bestatterin Angela Fournes lässt Wurster sich auf die Totenwache ein, zu der auch das Waschen, Herrichten, Schlafen und Feiern in Gegenwart des Leichnams zählt.

Das an überlieferte Praktiken anschließende Übergangsritual soll den Abschied erleichtern; Maren Wurster erlebt es als Stiftung einer konkreten, körperlichen Verbindung mit dem Gegangenen. Hier schließt sich der Kreis zu ihren eindringlichen Romanen: Es braucht die Kunst oder auch die Lebenskunst, um das Ende von allem zu ertragen.

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