Manifest der „Novaya Gazeta Europe“: Wir werden weiter sagen, was ist

Die im Exil produzierte Zeitung ist in Russland zur „unerwünschte Organisation“ erklärt worden. Die Redaktion will sich nicht einschüchtern lassen.

Dmitrij Muratow, Chefredakteur von Novaya Gazeta mit einem Mikrofon und Kopfhörern

Dmitrij Muratow, Chefredakteur von „Novaya Gazeta“, in der taz am 3. April 2023 Foto: Wolfgang Borrs

Die im Exil produzierte russische Zeitung Novaya Gazeta Europe ist in Russland zur „unerwünschte Organisation“ erklärt worden. Damit droht allen, die mit ihr zusammenarbeiten, in Russland Verfolgung und Haft. Die Redaktion will sich nicht einschüchtern lassen und veröffentlichte ein Manifest, das die taz hier dokumentiert.

Die taz hat bereits zweimal Beilagen mit Texten der Novaya Gazeta Europe auf Deutsch veröffentlicht.

Das Recht, die Wahrheit zu erfahren

Die russische Staatsmacht führt einen Krieg gegen die Ukraine, ihr eigenes Volk und die ganze Welt. Unabhängige Medien erzählen seit vielen Jahren die Wahrheit über diesen Krieg und die russische Diktatur. Nach dem 24. Februar 2022 wurden Gesetze über Zensur in Kriegszeiten angenommen, die hunderte Publikationen in Russland zerstört haben. Wir, wie auch viele unserer Kolleg*innen, haben eine schwere Wahl getroffen: das Land zu verlassen, um sprechen zu können. Wir glauben, dass die russische Gesellschaft das Recht hat, die Wahrheit über den Krieg und über seine Folgen für Russland zu erfahren.

Da es ihnen nicht gelungen ist, unabhängige Medien zu zerstören oder uns zum Schweigen zu bringen, erklären die russischen Behörden uns offiziell zu Verbrechern. Am 28. Juni 2023 wurde die Novaya Gazeta Europe in der Russischen Föderation zu einer „unerwünschten Organisation“ erklärt.

Kurz zuvor hatte Russland die ukrainische Stadt Kramatorsk mit Raketen angegriffen, elf Menschen starben, darunter auch Kinder, 61 Menschen wurden verletzt.

Die Führung der Russischen Föderation will nicht, dass die Menschen in Russland davon und über andere Verbrechen etwas erfahren und verfolgen Journalist*innen.

Die Generalstaatsanwaltschaft behauptet, dass die Novaya Gazeta Europe „tendenziöses Informationsmaterial zum Nachteil der Interessen der Russischen Föderation verbreitet“. Wir hingegen denken, dass Schaden für die Russische Föderation durch den verbrecherischen Krieg verursacht wird, durch diejenigen, die ihn entfesselt und unterstützt haben, einschließlich der Beamten der Generalstaatsanwaltschaft.

„Zu den Hauptthemen der Veröffentlichungen gehören Falschinformationen über angeblich massive Verletzungen der Rechte und Freiheiten der Bür­ge­r*in­nen in Russland, Beschuldigungen unseres Landes, einen Angriffskrieg in der Ukraine entfesselt zu haben, Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung zu begehen sowie Repressionen“, so die Generalstaatsanwaltschaft weiter. Faktisch werden Jour­na­lis­t*in­nen der Novaya Europe jedoch zu Ver­bre­che­r*in­nen erklärt, weil sie die Dinge beim Namen nennen.

Wir werden weiterhin sagen, was ist.

Das, was Russland in der Ukraine tut, ist um vieles schrecklicher als jeder „Status“, den sie denjenigen geben können, die die Wahrheit sagen.

Hunderte unserer Landsleute werden verfolgt, weil sie sich gegen den Krieg ausgesprochen haben – und wir dürfen sie weder vergessen noch schweigen.

Faktisch das letzte Instrument der Einschüchterung

Der Status „unerwünschte Organisation“ – für die Zusammenarbeit mit solchen Organisationen drohen Rus­s*in­nen möglicherweise Ordnungsstrafen und sogar Haft – ist faktisch das letzte Instrument, das die Staatsmacht der Russischen Föderation gegen uns einsetzen kann.

Der Hauptzweck dieses Instruments besteht darin, Journalist*innen, Au­to­r*in­nen und Le­se­r*in­nen einzuschüchtern. Die Behörden der Russischen Föderation möchten, dass weder wir noch andere wahrheitsgemäße Informationen existieren, aber diesen Gefallen können wir ihnen nicht tun.

Wir bitten die Le­se­r*in­nen der Novaya Europe in Russland, darauf zu achten, Links zu unserem Material aus ihren sozialen Netzwerken zu entfernen und uns in Zukunft nicht mehr zu zitieren.

Aber Sie können und sollten uns lesen!

Wir rufen unsere Kollegen zu Solidarität und gegenseitiger Hilfe auf – es ist offensichtlich, dass die russischen Behörden danach streben werden, alle unabhängigen Publikationen zu vernichten, da ihnen dies nach dem 24. Februar 2022 nicht gelungen ist.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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Wegen des Krieges und der Zensur musste die russische Zeitung Novaya Gazeta ihre Veröffentlichungen einstellen – zum ersten Mal seit 1995.

Am 7. April wurde der Chefredakteur der Zeitung, der Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, in Moskau attackiert. Die Angreifer wurden gefasst, aber die russischen Behörden werden sie nicht juristisch belangen. Der Journalistenberuf ist in Russland praktisch verboten, die russische Gesellschaft durch Hass und Denunziantentum vergiftet. Wir, das Team der Novaya Gazeta Europe, haben das Land verlassen, um unsere Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die den Krieg niemals akzeptieren und nie unterstützen werden. Wir wissen, dass es Millionen von uns gibt, auf beiden Seiten der Grenze, die jetzt wieder durch Europa geht. Menschen, die sich auf Russisch gegen den Krieg aussprechen – das sind unsere Leser und Autoren.

Die pro-europäischen und pro-ukrainischen Russen, die in ihrer Heimat mit der ständigen Angst vor Verhaftungen leben, oder im Exil außerhalb Russlands leben, ohne Arbeit und Zuhause – sie haben jetzt ein bisschen Zeit, zu jammern und zu klagen. Alle unsere Gedanken sind bei den Ukrainern. Wir wissen um die moralische Verpflichtung, die wir gegenüber den Menschen in der Ukraine haben.

Als Bürger des Aggressorlandes müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um den Krieg zu stoppen. Die russische Gesellschaft ist noch zu schwach, um Putin durch Massenproteste aufzuhalten.

Aber es ist unsere journalistische Pflicht, so vielen Russen wie möglich wahrheitsgemäße Informationen über diese Katastrophe zu liefern, die der russische Präsident Wladimir Putin über die Ukraine, Russland und ganz Europa gebracht hat. Die Novaya Gazeta ist zuallererst die Idee von einer Zeitung, die nicht von der russischen Zensur kontrolliert wird und die Wahrheit schreibt. Diese Idee darf nicht zerstört werden.

Kirill Martinow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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