Man Booker Prize für Anna Burns: Sexuelle Übergriffe und Widerstand
Die Jury war hingerissen, doch in Deutschland ist die diesjährige Man-Booker-Preisträgerin noch weitgehend unbekannt. Das sollte sich schnell ändern.
Das Buch werde überdauern, sagte Appiah: Es sei genauso nützlich für die „zersplitterten Gesellschaften im Libanon und in Syrien wie für die Genderdebatte im Westen“. Die 56-Jährige erzähle eine Geschichte der Brutalität, der sexuellen Übergriffe und des Widerstands, durchsetzt mit ätzendem Humor, sagte er.
Worum geht es? Die 18-jährige Ich-Erzählerin wird von einem viel älteren, verheirateten Mann mit dem Spitznamen „Milkman“ bedrängt. Er kämpft in einer paramilitärischen Einheit und nutzt die Spaltung der Gesellschaft und seine Macht als Kämpfer aus, um ihr nachzustellen, ohne jemals handgreiflich zu werden. Die Erzählerin schildert die Reaktionen ihres Umfelds.
Der Ort, an dem das Buch spielt, wird nicht genannt, aber es ist klar, dass es sich um Nordirland handelt. Anna Burns ist in dem Belfaster Viertel Ardoyne geboren und aufgewachsen, einer katholisch-nationalistischen Enklave inmitten protestantischen Gebiets. Um das Viertel verläuft trotz des Friedensabkommens vom Karfreitag 1998 noch immer Brachland als Pufferzone.
Vermeintliche Normalität
In Ardoyne ist Ende der sechziger Jahre die Irisch-Republikanische Armee (IRA) wiedergegründet worden. 6.600 Katholiken leben hier auf anderthalb Quadratkilometern, 180 Einwohner Ardoynes sind in den 25 Jahren des Konflikts von protestantischen Loyalisten umgebracht worden. Es war ein Ort, wo Gewalt, Misstrauen und Paranoia grassierten, sagt Burns, die seit 30 Jahren in England lebt: „Ich dachte, das sei Normalität.“
Bereits in ihrem ersten Roman, „No Bones“, der 2001 erschienen ist, ging es um das Aufwachsen eines Mädchens während der troubles, wie der politische Konflikt dort euphemistisch genannt wird. Der „Milkman“ entsprang aus „ein paar hundert Wörtern, die in einem anderen Roman, an dem ich gerade arbeitete, überflüssig waren“, sagt sie. Eigentliche wollte sie daraus eine Kurzgeschichte machen, doch dann wurde ein ganzes Buch draus.
„Milkman“ ist ihr vierter Roman. Der Spitzname des Mannes rührt daher, dass die IRA früher Benzinbomben in Milchkästen an Jugendliche verteilt hat. Die fünf Jury-Mitglieder betonten, dass ihre einstimmige Entscheidung weder durch die Präsenz Nordirlands in der Brexit-Debatte noch durch die MeToo-Kampagne beeinflusst worden sei. Das Buch sei eine Herausforderung, sagte Appiah bei der Preisverleihung in der Londoner Guildhall.
Die Namen wieder gestrichen
Es ist keine einfache Lektüre, sowohl vom Inhalt als auch vom Stil her. Die Erzählung ist im Sprachduktus Nordirlands gehalten, es gibt fast keine Absätze, die Protagonisten haben keine Namen. „Das Buch funktioniert nicht mit Namen“, sagt Burns. „Anfangs habe ich es ein paarmal mit Namen versucht, aber die Erzählung wurde dadurch schwer und leblos. Deshalb habe ich sie wieder herausgenommen.“
Anna Burns war in der Literaturszene bisher ziemlich unbekannt, auch in Irland. Sie sagt, das Schreiben sei für sie bisher nicht sonderlich lukrativ gewesen. Sie musste oft umziehen, weil sie die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte. „Mit dem Preisgeld werde ich meine Schulden zahlen, und vom Rest werde ich erst mal leben“, sagt sie. Auf Deutsch gibt es noch keins ihrer Bücher. Das dürfte sich nun ändern. Wer mit der Übersetzung des „Milkman“ beauftragt wird, hat keine leichte Aufgabe vor sich.
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