Main Characters auf Social Media: 15 Minuten ungewollter TikTok-Ruhm

Es ist das Ziel vieler Tik­To­ke­r*in­nen, mit ihren Videos viral zu gehen. Bei sogenannten Main Characters passiert das unfreiwillig.

Andra Griffin (links) und Jonathan Riches (rechts) demonstrieren an einem Gedenkort. Sie halten Schilder hoch, vor ihnen sieht man Blumensträuße, hinter ihnen ein Rasen und ein Einfamilienhaus

Der Fall um das Verschwinden Gabby Petitos ging viral. Heute weiß man, dass sie tot ist, der Fall bewegt TikTok-User*innen allerdings noch immer Foto: Imago

Wenn Ihnen die Namen „West Elm Caleb“ und „Couch Guy“ etwas sagen, verbringen Sie sehr viel Zeit im Internet, vor allem auf TikTok. Beide beschreiben Personen, die zum sogenannten Main Character wurden, also ein Phänomen sozialer Medien, bei dem ganz gewöhnliche Menschen, die vorher keinerlei Berühmtheit hatten, für einen sehr kurzen Zeitrahmen das dominierende Thema der Plattform sind.

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TikTok ist ein soziales Medium, das anders funktioniert als Twitter oder Instagram: Die Videos im Feed der Nut­ze­r*in­nen werden weniger aufgrund der Accounts, denen man folgt, angezeigt, sondern nach einem starken Algorithmus und danach, was generell populär ist. Durch diese Funktionsweise können Inhalte ohne Kontext viral gehen, also auch ohne das ursprüngliche Video. Sprich: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Video tausend- oder millionenfach angeklickt wird, ist sehr hoch. Selbst harmlose Inhalte können so zum Aufreger der gesamten Plattform werden.

Wie im Oktober 2021 „Couch Guy“. Das ist der „Name“ eines jungen Mannes, der von seiner Freundin am College überrascht wird. Als sie die Tür zu einem Zimmer öffnet, sieht man ihn auf einer Couch neben mehreren Frauen sitzen; er steht zögerlich auf und umarmt sie. Hochgeladen von der Freundin, die zu dem Zeitpunkt nur rund 200 Fol­lo­wer*­in­nen hatte, wurde der Clip innerhalb weniger Tage 60 Millionen Mal aufgerufen, jede einzelne seiner Bewegungen analysiert oder parodiert. Nahezu einstimmig war TikTok der Meinung, er betrüge sie.

„West Elm Caleb“ wiederum bezeichnet einen 25-jährigen New Yorker namens Caleb, der für das Möbelgeschäft West Elm arbeitet. Im Januar dieses Jahres fanden mehrere Frauen, dass er sie gleichzeitig datete; ihre Warnungen, nicht auf den Mann hereinzufallen, gingen schnell viral. Zeitungen, Magazine und Klatschportale schrieben Artikel über ihn, er wurde auf Twitter ebenso diskutiert wie auf Reddit oder Youtube.

Googelt man „West Elm Caleb“, gibt es mehr als 400.000 Suchergebnisse. Kurzzeitigen Negativruhm hatte in den vergangenen Monaten auch die trans Frau Sabrina Prater, die ein Video von sich im Keller tanzend veröffentlichte und der andere Tik­To­ke­r*in­nen „schlechte Vibes“ attestierten oder ihr sogar unterstellten, eine „Serienmörderin“ zu sein.

Oft bleibt es nicht bei Kritik

Die Warhol’sche Vorhersage, in der Zukunft habe je­de*r 15 Minuten Ruhm, wird für diese Menschen zur ungewollten Realität. Das Problem beim Phänomen des „Main Characters“ ist, dass es bei diesen viralen Trends oft nicht bei der Kritik oder der Parodie bleibt. Es wird ein Dominoeffekt in Gang gesetzt; Use­r*in­nen versuchen, so viel wie möglich über die Person herauszufinden. Es wird nicht nur in früheren Videos oder Tweets der Person gewühlt, sondern auch Privatadressen gedoxxt, also im Netz veröffentlicht, Arbeitgeber unter Druck gesetzt, sie zu feuern, und teilweise sogar Morddrohungen ausgesprochen.

Zwei Monate nachdem sein Video viral ging, veröffentlichte „Couch Guy“, der in echt Robert McCoy heißt, im Onlinemagazin Slate einen Artikel, in dem er den Horror beschreibt, als gewöhnlicher Typ plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Er sei unter anderem als „Psychopath“ bezeichnet worden, so McCoy; ein TikTok, das seine Wohnung von außen zeigt, wurde mehr als 2,3 Millionen Mal abgerufen. Die Jagd nach Informationen und die Versuche, jedes Detail im Video zu analysieren, setzte er mit der Popularität von True Crime in Bezug.

True Crime ist ein Genre, das sich, spätestens seit im Jahr 2014 der Podcast Serial startete, größter Beliebtheit erfreut. So groß, dass auch Privatpersonen auf eigene Faust Ermittlungen anstellen. McCoy verglich die Art, wie er investigiert wurde, mit der Aufregung, die es auf TikTok um die verschwundene Gabby Petito gab. Die 22-Jährige wurde, wie man heute weiß, im August 2021 von ihrem Freund ermordet. Mehrere Wochen lang suchte die Familie nach ihr, bis man ihre Leiche schließlich in einem Nationalpark in Wyoming entdeckte. Auf TikTok wurde in der Zeit versucht, alles über Petito, ihren Freund und ihr Verschwinden herauszufinden, Use­r*in­nen durchstöberten ihre alten Social-Media-Posts, demonstrierten vor seinem Haus.

Bereits im Fall Gabby Petito wurden die Hob­by­de­tek­ti­v*in­nen auf TikTok für diesen Hype kritisiert. Einige Hinweise und Beobachtungen halfen bei der Investigation, viele Posts waren aber nicht nur unsensibel, weil sie eindeutig auf Klicks aus waren, sondern verbreiteten auch Falschinformationen.

Es stellt sich die Frage: Ist es moralisch vertretbar, unbekannte Personen gegen ihren Willen aus der Anonymität zu reißen und im Internet bloßzustellen? Wo es bei Gabby Petito gewiss viel ehrliche Anteilnahme und Hilfsbereitschaft gab, ist dies bei „Couch Guy“, „West Elm Caleb“ und Sabrina Prater weniger der Fall. Für „Main Character“ können diese 15 Minuten TikTok-Ruhm langfristige Konsequenzen haben, wenn Privatadressen und andere persönliche Informationen veröffentlicht werden, Arbeitgeber dem Druck, der auf sie ausgeübt wird, nachgeben und sie feuern, oder wenn Personen gar Morddrohungen erhalten.

TikTok selbst trägt Verantwortung

Gewiss, gerade „West Elm Caleb“ kann einiges vorgeworfen werden. Sein Datingverhalten war unmoralisch bis potenziell gesetzwidrig. Ihm wird von Tik­To­ke­r*in­nen vorgeworfen, Dick Picks verschickt zu haben. Bislang ist das in New York noch nicht strafbar, ein entsprechender Gesetzentwurf liegt vor. Doch rechtfertigt das, wenn Tik­To­ke­r*in­nen seine Privatsphäre mit der Hoffnung auf virale Videos ausschlachten? Die Causa „West Elm Caleb“ hat innerhalb kürzester Zeit so große Wellen geschlagen, dass die New Yorker*in, die als Erstes über ihr Date mit ihm berichtete, ein weiteres Video postete, um klarzustellen, dass sie nicht vorhatte, ihn so bloßzustellen.

Wie verhält sich das bei Robert McCoy und Sabrina Prater und anderen bis dato anonymen „Main Characters“, die keiner Menschenseele etwas zuleide getan haben? In der Hoffnung auf Aufmerksamkeit scheinen Use­r*in­nen zu vergessen, dass diejenigen, die ins Kreuzfeuer gelangen, echte Menschen sind und nicht Prot­ago­nis­t*in­nen eines DIY-True-Crime-Falls. Ist die Strafe für ihr „Verbrechen“ angemessen?

Unbestreitbar ist: Mit der Zunahme dieses Trends, Privatpersonen „investigieren“ zu wollen, steigt auch die Verantwortung, die TikTok selbst hat. In den Nutzungsbedingungen der App heißt es zwar, andere Use­r*in­nen dürften nicht „eingeschüchtert oder belästigt“ werden. De facto sind soziale Netzwerke beim Bannen und Löschen dieser Inhalte aber immer eher zögerlich und dass TikTok eine chinesische App ist, kommt erschwerend hinzu beim Zur-Rechenschaft-Ziehen.

Das bedeutet, dass es die Use­r*in­nen selbst sind, die Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen und sich in Zukunft fragen müssen, ob geringe oder gar nicht existente „Vergehen“ es wert sind, andere zu belästigen und zu bedrängen.

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