Magazin für Autisten und AD(H)Sler: Von uns, für uns, über uns
„N#mmer“ möchte das Bild von Autisten und AD(H)Slern im medialen Diskurs verändern. Die erste Ausgabe hat sich gut verkauft, nun erscheint die zweite.
Am Ende des Tisches, der mit pinker Plastikfolie beklebt ist, sitzt Denise Linke. Auf der rechten Innenseite ihres Armes blitzt ein Tattoo mit der Aufschrift „N#ummer“ in klaren schwarzblauen Buchstaben hervor. Um die zierliche junge Frau mit Kurzhaarfrisur herum sind ihre Autoren und Freunde versammelt. An diesem Tag gibt es Grund zum Feiern. „Vorhin haben wir das PDF für die zweite Ausgabe an die Druckerei geschickt“, verkündet sie. Ihr Gesichtsausdruck strahlt Erleichterung aus. Angestoßen wird mit Bier und Pflaumentee zu koreanischem Barbecue.
Vor ein paar Tagen war Linke noch in den USA. Der Grund ist ihr im Dezember zum ersten Mal erschienenes Magazin N#mmer. Durch ein Crowdfunding konnte die Wahlberlinerin ihre Idee in die Tat umsetzen. Sie wendet sich explizit an „Autisten, AD(H)Sler und Astronauten“. Mit dem Themenheft möchte sie nicht nur über Mythen von Autismus und AD(H)S aufklären. Sie schafft einen Austausch für Betroffene und weitet den gesellschaftlichen Blick für „Astronauten“ – wie sie neurotypische, also „normale“ Menschen nennt. Sie tauchen mit Geschichten, Hintergrundberichten und Interviews in ein unbekanntes Universum.
Wie ist die Liebe in Zeiten von AD(H)S? – darauf gehen Linke und ihr Team in der ersten Ausgabe „Schwerpunkt Liebe“ ein. Das Heft hat sich gut verkauft. Der Magazinstapel in Linkes Zimmer ist klein geworden. 103 Kisten waren es einmal, 2.500 Exemplare.
Unter ihren Freunden blüht Linke förmlich auf, erzählt aufgeregt von kuriosen Erlebnissen auf ihrer USA-Reise: von Begegnungen auf der Straße und Teenagermüttern. „Ich bin wahnsinnig impulsiv“, das bringt sie immer in merkwürdige Situationen. Sie erzählt, dass sie mit 26 Jahren bereits geschieden sei. Linke, die seit ihrem zehnten Lebensjahr schreibt, hat seit 2011 die Diagnose „Asperger“, einer Form von Autismus. Im letzten Jahr kam die ärztliche Bestätigung von ADHS hinzu.
Motorische Unruhe
„Ein Problem sind Organisationen in den USA wie „Autism Speaks“, die mit furchteinflößenden Videos versuchen, autistische Kinder zu stigmatisieren“, erklärt Linke. Dagegen kämpft das N#ummer-Team im Kleinen an. Es ist weltweit das erste Magazin, in dem nahezu alle Inhalte von Autisten und AD(H)Slern stammen.
„Alle bei Twitter aktiven deutschsprachigen Autisten und ADHSler kennen sich“, sagt Linke. Es seien nicht so viele. Soziale Netzwerke vereinfachen vieles. Auch ihre Autoren Benjamin Falk, Mela Eckenfels, Marlies Hübner und Ricarda Riechert kennt sie dadurch. „Bei der letzten Releaseparty habe ich einige getroffen, die ich vorher nicht kannte“, sagt die 26-Jährige. Mit dem Magazin wollte Linke, die 2006 bei Ullstein ein Buch veröffentlicht hat, nicht zu einem Verlag. „Ich wollte frei sein“, sagt sie. Sie setze Themen „von uns, für uns, über uns“.
Vor gut einem Jahr beschloss Linke das Magazin zu gründen. „Wenn Menschen sich für etwas interessieren, wollen sie es auch in die Hand nehmen, aufbewahren und ins Regal stellen“, sagt sie. Das kenne sie von sich selbst und es gehe vielen Autisten ähnlich. Deshalb sollte es auf Papier gedruckt sein. Da Autisten empfindlich auf taktile Reize reagieren, sollte es nicht zu dünn und nicht zu rau sein.
Nach dem internationalen medizinischen Klassifikationssystem wird Autismus als tiefgreifende Entwicklungsstörung beschrieben. „Ich habe nicht nur ADHS, sondern auch Asperger und bringe mich ganz oft in Situationen, mit denen ich gar nicht umgehen kann“, sagt Linke. Die „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ ADHS umschreibt die Bundesärztekammer mit den Störungsbildern Unaufmerksamkeit, motorische Unruhe sowie abrupte oder verbale Aktionen, die nicht in den sozialen Kontext passen.
Papierkram fällt schwer
Mit dem Beruf als freie Journalistin macht es sich Linke nicht leicht. Besonders viel Überwindung kosteten sie Telefonate. Auch das Rechnungenschreiben fällt ihr schwer. „Die Diagnose ist die einzige Rettung gewesen“, sagt sie. Sie bezweifelt, dass sie sonst ein Unternehmen hätte führen können. Für den „Papierkram“ hat sie jetzt einen Steuerberater beauftragt. „Ich bin mir meiner eigenen Defizite bewusst und kann dagegen arbeiten.“
Denise Linke schreibt darüber, wie Autisten die Welt wahrnehmen, über Erfahrungen, die sie gemacht hat. Das verarbeitet sie in Zeitungsartikeln, in N#mmer und ihrem zweiten Buch, das im Herbst erscheint.
Die Studentin nimmt sich gerade eine Auszeit von der Uni. Kaum ist das PDF für die zweite Ausgabe – „Jetzt reden wir. Kunst und Medien“ – in den Druck gegangen, ist sie in Gedanken bei der nächsten. Nach dem positiven Feedback vom USA-Besuch und dem mit 1.000 Euro dotierten Crowdfunding-Preis „One Spark“ soll N#ummer ins Englische übersetzt werden. Nach Unterstützung sucht sie noch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja