Mädchenrechte in Nigeria: Der Kampf gegen Kinderehen
Noch immer werden in Nigeria viele Kinder verheiratet. Kudirat Abiola, Susan Ubogu und Temitayo Asuni kämpfen mit Fakten und Unterschriften dagegen an.
Ständig unterwegs zu sein und zahlreiche Fragen zu beantworten, das kennen die beiden Schülerinnen mittlerweile. Gemeinsam mit Temitayo Asuni, die gerade im Ausland ist, haben sie im Dezember 2018 sehr spontan die Organisation „It’s never your fault“ (Itsnyf) gegründet und der Kinderehe in Nigeria den Kampf angesagt. „Wir glauben nämlich ganz stark daran, dass Kinder keine Bräute sein dürfen“, sagt die 16-jährige Kudirat Abiola.
Doch sie sind es: Bis heute werden in dem einwohnerreichsten Staat Afrikas, in dem rund 200 Millionen Menschen leben, 44 Prozent der Mädchen noch als Minderjährige verheiratet. Nigeria liegt damit laut der nichtstaatlichen Organisation „Girls Not Brides“ mit Sitz in London weltweit auf Rang elf. Am weitesten verbreitet ist die Kinderehe im Nachbarland Niger (76 Prozent), das zugleich das Land mit der höchsten Geburtenrate ist. 7,2 Kinder bringt eine Frau dort durchschnittlich auf die Welt.
Auch wenn die Zahl in den vergangenen Jahren abgenommen hat, ist die hohe Zahl der frühen Ehen dafür mitverantwortlich. Auf Platz zwei und drei liegen die Zentralafrikanische Republik (68 Prozent) und der Tschad (67 Prozent). Das sind alles Länder, die im Entwicklungsindex der Vereinten Nationen weit unten stehen.
Immer wieder wird die Kinderehe mit Religion begründet. Das sei jedoch eine „falsche Auslegung“, so Hussaini Abdu, Landesdirektor des Kinderhilfswerkes Plan International. Auch auf kultureller Ebene habe es lange Zeit eine hohe Akzeptanz gegeben. „Der Hauptgrund ist aber ein wirtschaftlicher.“ Wenn Eltern ihre Töchter verheiraten, sind nicht mehr sie für deren Unterhalt verantwortlich, sondern der Ehemann. Der investiert selten in die Fortsetzung der Schulbildung oder später eine Ausbildung. Nach Einschätzung der World Poverty Clock leben in Nigeria knapp 94,4 Millionen Menschen in absoluter Armut.
Hundertausende Unterschriften in kurzer Zeit
Die drei Aktivistinnen sehen die Kinderehen für Nigerias Volkswirtschaft als katastrophal an. „Wenn wir Kinder verheiraten, zerstören wir unsere Gesellschaft. Wir geben ihnen keine Ressourcen, keine Bildung. Die Analphabetenrate ist höher, und die Wirtschaft wächst langsamer“, zählt Kudirat Abiola die Nachteile auf. Dazu kommen gesundheitliche Probleme. Bei Geburten entstehen Komplikationen, weil die Körper der jungen Mütter noch nicht vollständig entwickelt sind. „Es geht uns auch um mentale Gesundheit. Manche Mädchen haben Selbstmordgedanken.“ Die Schülerinnen tragen ihr Anliegen nüchtern vor und nennen Fakten, anstatt das ohnehin schon hochemotionale Thema weiter zu emotionalisieren.
Dass sich Politiker*innen öffentlich gegen die Kinderehe aussprechen, darauf haben sich die drei Teenager schon bei ihrem ersten Treffen nicht verlassen. Eher zufällig lernten sie sich bei einem Workshop für Schülerinnen in Lagos kennen und arbeiteten zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der Vereinten Nationen, die bis 2030 umgesetzt werden sollen. Oberste Priorität hat für sie Ziel Nummer fünf, die Geschlechtergerechtigkeit.
Wenige Wochen nach der Gründung ihrer NGO starteten sie eine Onlinepetition gegen die Kinderehe, die mittlerweile mehr als 200.000 Menschen unterzeichnet haben. Täglich kommen Hunderte neue Unterschriften hinzu. Ihre erste Konferenz zur sozialen Ungerechtigkeit im Land haben sie im August organisiert und dazu Aktivisten, Wirtschaftsexperten und Rechtsanwälte eingeladen. Ein Ausschnitt aus der Podiumsdiskussion ist auf YouTube zu sehen. „Soziale Medien sind ziemlich mächtig“, lächelt Kudirat Abiola.
In Nigeria dürfte es die bisher größte Kampagne gegen die Kinderehe sein. Hier, wie auch in anderen Ländern, gab es zwar in den vergangenen Jahren vereinzelt Proteste. Im Nachbarland Benin entstand etwa die Initiative „Null Toleranz für die Kinderehe“. Doch meist gerieten sie schnell wieder in Vergessenheit. Auch über Aufreger, wie die Heirat des früheren Gouverneurs des nördlichen nigerianischen Bundesstaates Zamfara, Ahmad Sani Yerima, mit einer 13-Jährigen aus Ägypten, wurde nur ein paar Tage lang gestritten. Eine generelle Debatte lösten sie ebenso wenig aus wie Maßnahmen, um die Praxis zu verbieten.
In einem Land, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich enorm tief ist, geht Susan Ubogu dennoch davon aus, dass jeder die Chance hat, Dinge zu ändern. „Man kann immer etwas für andere tun, die weniger privilegiert sind“, sagt die 17-Jährige, die leidenschaftliche Programmiererin ist. Das tut auch jede Unterschrift. Vorerst sollen es 300.000 werden. Je mehr zusammenkommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinderehe im Senat und Parlament diskutiert wird. Das ist das eigentliche Ziel.
Hussaini Abdu
„Bisher haben wir den Politikern*innen noch etwas Zeit gegeben, weil sie erst im Februar gewählt worden sind. Jetzt wollen wir sie aber alle ansprechen und für unsere Sache werben.“ Sie wollen so viele Unterstützer*innen finden, damit eine Verfassungsänderung – für diese ist eine Zweidrittelmehrheit nötig – machbar wird.
Anders als in vielen anderen Ländern ist dort das Heiratsalter nicht festgeschrieben. Allerdings gilt eine Person als „erwachsen“, sobald sie verheiratet ist. „Mitunter haben einzelne Bundesstaaten Heiratsgesetze“, sagt Hussaini Abdu. Dazu gibt es den Child Rights Act von 2003, der festlegt, dass Eheschließungen nur erlaubt sind, wenn die Ehepartner die Volljährigkeit erreicht haben. Das Gesetz haben bis heute aber elf der 36 Bundesstaaten nicht unterzeichnet, in denen es folglich auch nicht gilt. Einen unsinnigen Widerspruch nennt Kudirat Abiola diese nigerianische Besonderheit.
Scharia als Basis
Nach Einschätzung von Abdu würde durch eine Verfassungsänderung jedoch nicht automatisch alles anders werden. „Wichtig ist, dass die Armut bekämpft wird. Bildung für Mädchen muss kostenfrei sein und die Schule als sicherer Ort angesehen werden.“ Das ist nicht immer so. Immer wieder kommt es zu Missbrauch und Vergewaltigung. Zur Rechenschaft gezogen werden die Täter nur selten.
Im Norden Nigerias beruft man sich mitunter auf die Scharia, die dort in zwölf Staaten gilt. Als ein alleiniges Problem des Nordens, dessen Entwicklungszahlen oft weit unter denen des Südens liegen, vor allem Mädchen kürzer zur Schule gehen und der Zugang zur Gesundheitsvorsorge schwieriger ist, will Kudirat Abiola die Kinderehe jedoch nicht ansehen. Überall im Land würden Minderjährige verheiratet. Selbst im Südwesten mit der Metropole Lagos liegt die Rate weiterhin bei zehn Prozent. „Außerdem geht es um die Verfassung. Und die geht unser ganzes Land an.“
Kudirat Abiola, Susan Ubogu und Temitayo Asuni ist jedoch noch etwas anderes sehr wichtig. Die Kinderehe dürfe auf keinen Fall als reines Frauenthema gesehen werden. „Beide Geschlechter sind gleichermaßen betroffen, weshalb wir nicht nur mit Frauen sprechen. Wir müssen den Männern klarmachen: Es ist falsch, was da passiert“, sagt Susan Ubogu. Verheiratet würden schließlich Töchter und Schwestern.
„Stellt euch vor, eure Tochter oder jüngere Schwester wird einem 70-Jährigen gegeben, der alle möglichen Dinge mit ihr macht“, sagt sie, setzt bewusst sofort ein Kopfkino in Gang, um gleich wieder analytisch und nüchtern zu werden. „Und stellt euch auch vor, dass alle Mädchen, die jedes Jahr vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet werden, ausgebildet wären. Wie hoch würde dann wohl unser Bruttosozialprodukt sein? Und wie gut würde unsere Wirtschaft dastehen?“
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