Machtkampf in der EU: Ursula von der Leyen unter Druck
Eine Mehrheit der EU-Abgeordneten will eine Klage gegen die Kommission vorbereiten. Grund ist die Freigabe von EU-Geldern für Ungarn.
Behördenchefin Ursula von der Leyen gerät nur fünf Monate vor der Europawahl unter erheblichen Druck. Auch für Ungarns Premier Viktor Orbán wird es ungemütlich. In einem weiteren Antrag forderten die Abgeordneten, Ungarns Regierung das Stimmrecht im Rat der EU zu entziehen. Ungarn will am 1. Juli den Ratsvorsitz übernehmen.
Das sei „die einzige konsequente Antwort“, um Orbáns „ewige Erpressungsversuche zu unterbinden“, sagte die Parlamentsvizepräsidentin Katarina Barley (SPD). Ähnlich äußerte sich Monika Hohlmeier von der CSU. Solange Gerichtsurteile in Ungarn „über Nacht per Dekret abgeändert“ werden könnten, gebe es weiter „schwerwiegende“ Bedenken an der Rechtsstaatlichkeit. Deswegen will das Parlament nun vor dem Europäischen Gerichtshof klagen.
Einen Schritt weiter
Die Liberalen gehen noch einen Schritt weiter als die Mehrheit: Sie drohen mit einem Misstrauensvotum gegen die EU-Kommission. Dies zielt direkt auf von der Leyen. Einige liberale Abgeordnete wollen ihr sogar eine zweite Amtszeit in Brüssel streitig machen.
Die konservative EVP hingegen will von der Leyen schonen – sie soll im März zur Spitzenkandidatin gekürt werden. Die größte Parlamentsfraktion, zu der auch CDU/CSU gehören, will vor allem Druck auf Deutschland und Frankreich machen, um Ungarn das Stimmrecht zu entziehen.
Grünen, Linken und Sozialdemokraten wiederum geht es in erster Linie um den Rechtsstaat. Allerdings verwickeln sie sich in Widersprüche. Gegen die Auszahlung von EU-Geldern an Polen haben sie keine Bedenken – obwohl der Rechtsstaat nach acht Jahren autoritärer PiS-Herrschaft längst nicht wiederhergestellt ist.
Von Nationalisten und Rechtspopulisten kommt daher der Vorwurf, in Wahrheit gehe es gar nicht um den Rechtsstaat. Die proeuropäische Mehrheit im Parlament wolle Orbán vielmehr für seine Politik abstrafen.
Kein Geld mehr aus Brüssel
Wie geht es jetzt weiter? Zunächst muss sich der Rechtsausschuss des Parlaments mit dem Fall befassen und den Europäischen Gerichtshof einschalten. Ob es zu einer Klage kommt oder nur zu einer rechtlichen Prüfung, ist offen. Eine Prüfung könnte schnell erfolgen, eine Klage könnte sogar Jahre in Anspruch nehmen.
Sollte die Sache negativ für die EU-Kommission ausgehen, wäre die Freigabe von „eingefrorenen“ EU-Mitteln erheblich erschwert. Aber auch so dürfte die Initiative dazu führen, dass Ungarn so schnell kein Geld aus Brüssel mehr erhält. Das ist das Hauptziel. Von der Leyen soll gehindert werden, sich erneut „erpressen“ zu lassen, wie es der grüne EU-Abgeordnete Daniel Freund formuliert.
Die Kommissionschefin nimmt es gelassen. Von Erpressung könne keine Rede sein, erwidert sie auf die Vorwürfe. Budapest habe ein Gesetz für die Unabhängigkeit der Justiz verabschiedet, sagte sie in Straßburg. „Das ist, was wir gefordert haben, und das ist, was Ungarn geliefert hat.“
Außerdem lägen 20 Milliarden Euro weiter auf Eis – wegen Bedenken hinsichtlich der Rechte sexueller Minderheiten, akademischer Freiheiten und der Rechte von Asylbewerbern. Das werde auch so bleiben, „bis Ungarn die notwendigen Bedingungen erfüllt“.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Forscher über Einwanderungspolitik
„Migration gilt als Verliererthema“
Sauerland als Wahlwerbung
Seine Heimat
Abschied von der Realität
Im politischen Schnellkochtopf
Erstwähler:innen und Klimakrise
Worauf es für die Jugend bei der Bundestagswahl ankommt
Pragmatismus in der Krise
Fatalismus ist keine Option
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte