Machtkampf in Bolivien: Evo Morales gibt nach
Boliviens Präsident ruft Neuwahlen aus. Zuvor berichtet die OAS von Unregelmäßigkeiten bei der Wahl im Oktober. Die Polizei schließt sich Protesten an.
„Ich habe beschlossen, neue nationale Wahlen auszurufen, damit das bolivianische Volk seine neue Regierung auf demokratischen Weise wählen kann, unter Einbeziehung neuer politischer Akteure“, sagte Präsident Evo Morales in einer kurzen Ansprache. Es ist zunächst unklar, was das für seine Kandidatur bedeutet.
Einen sofortigen Rücktritt, wie es die Opposition auf der Straße gefordert hatte, schloss Morales allerdings aus. In ersten Reaktionen auf die Ankündigung der Neuwahlen forderte Oppositionskandidat Carlos Mesa, der bei den Wahlen am 20. Oktober auf dem zweiten Platz gelandet war, die Proteste sollten weitergehen, solange nicht klar sei, dass weder Evo Morales noch sein Vize Alvaro García Linera erneut kandidieren würden. Im Übrigen solle Morales sofort zurücktreten.
Bei der Wahl am 20. Oktober sah es zunächst so aus, als ob der Wahlsieger erst in einer Stichwahl zwischen Evo Morales und Herausforderer Carlos Mesa entschieden würde. Dann wurde die Bekanntgabe von Ergebnissen für einen Tag unterbrochen – und anschließend bekannt gemacht, Morales habe mit einem Vorsprung von knapp über zehn Prozentpunkten und mehr als 40 Prozent der Stimmen die direkte Wiederwahl geschafft. Seitdem ist Bolivien nicht mehr zur Ruhe gekommen. Drei Menschen sind gestorben, über 300 wurden verletzt.
Nachts demonstrieren die mit, die tagsüber arbeiten
Seit Freitag überschlugen sich dann die Ereignisse. Polizeieinheiten in Cochabamba verkündeten den Aufstand, Polizist*innen in mindestens fünf weiteren Departamentos schlossen sich an.
Auch im Regierungssitz La Paz wurden die Proteste immer lauter. Wer durch die Straßen geht, sieht an vielen Stellen Graffiti, die Morales einen Diktator, Lügner, Drogenhändler nennen. In Nachbarschaften haben Menschen Straßen abgesperrt, auf denen sie protestieren.
Die Kleinbusse des öffentlichen Nahverkehrs, deren Gewerkschaften die Regierung unterstützen, bewegen sich zwischen den Sperrungen oder müssen Umwege fahren. In Lokalen und Geschäften in Gegenden, wo gerade niemand demonstriert, laufen rund um die Uhr Liveübertragungen und Nachrichten.
Nachts demonstrieren die mit, die tagsüber arbeiten. Es sind vor allem junge Leute, Studierende, Berufstätige um die 30. An den Kreuzungen finden sie sich zusammen, zünden kleine Feuer an, um sich zu wärmen, rufen Parolen – und gehen dorthin, wohin sie von anderen Gruppen zur „Unterstützung“ gerufen werden, wenn Regierungstreue ihnen gefährlich werden. Verwandte schreiben aus anderen Vierteln Hilferufe per WhatsApp.
Fahrradhelm mit Plastiktüte gegen Schläge
Gabriela Cassa (56) hat zuhause normalerweise ein kleines Geschäft. Jetzt ist sie seit Tagen Tag und Nacht auf der Straße unterwegs. „Ich mache das für unsere Jugend, die nicht in einer Diktatur leben soll. Ich möchte, dass es Frieden und Demokratie gibt.“ Es ist Freitagnacht, sie steht zusammen mit ihrer Tochter und etwa 50 weiteren Demonstrierenden an einer der Gassen, die zur Plaza Murillo führen, dem Regierungssitz. Ihre Tochter ist Ingenieurin und geht tagsüber noch arbeiten. „Sie ernährt mich gerade, sonst könnte ich das nicht machen. Mein Kochtopf ist schon ganz verbeult vom vielen Draufschlagen.“
Auf der einen Seite der Metallabsperrung lehnen an den Hauswänden rechts und links Polizisten in schwarzer Montur und Tränengaskartuschen an der Weste, auf der anderen Seite steht die Gruppe von Demonstrierenden. Cassa hat sich wie so viele hier eine Schutzkleidung gebastelt: Sie trägt ihren Fahrradhelm mit einer Plastiktüte auf dem Kopf gegen Schläge. Anhänger der Regierung haben sie vor ein paar Tagen am Bein verletzt.
Andere haben Bauhelme auf dem Kopf, Gasmasken, Taucherbrillen, Stoffmundschutz oder mit Essig getränkte Tücher dabei, um sich gegen Tränengas zu schützen. Manche haben sich aus Metalltonnen oder Holzplatten Schutzschilder gebastelt, die sie Rot, Gelb und Grün bemalt haben, den Farben Boliviens.
Zu diesem Zeitpunkt spricht Präsident Evo Morales von einem Putsch und davon, dass die Demonstrierenden mit Gewalt einen Umsturz bewirken wollen. Tatsächlich geht die Gewalt überwiegend von seinen Anhänger*innen aus, berichten bolivianische Medien und Demonstrierende. Die MAS-Befürworter*innen kommen mit Stangen und Stöcken, werfen Steine, Granaten und Dynamit, sagen die Demonstrierenden. Das Dynamit werfen die berüchtigten „mineros“, Bergarbeiter, die sich vor Kurzem Gegenprotesten anschlossen.
„Bruder Polizist, das Volk ist mit dir“
Die Polizei hat der Gewalt bis vor Kurzem wenig entgegengesetzt, sie aber offenbar aber auch nicht ausgeübt. Am Samstag zeigen Fernsehbilder Demonstrierende in unmittelbarer Regierungsnähe. Die Polizei ist nicht mehr da. Demonstrierende besetzen regierungsnahe Fernsehsender.
Der Chef der Streitkräfte, General Willams Kaliman, sagt in einer zweiminütigen Stellungnahme: „Wir Streitkräfte (…) werden uns niemals gegen das Volk stellen.“ Die aktuellen Probleme seien in der Politik entstanden, also müssten sie auch politisch gelöst werden. Fernsehbilder zeigen die ersten Polizisten, teils vermummt, die bei den Protesten in La Paz mitmarschieren.
Vor dem Regionalkommando der Polizei im Stadtteil San Pedro haben sich ein paar Hundert Menschen versammelt, ein rot-gelb-grünes Meer. Für jeden Polizisten, der durch die Masse ins Gebäude geht, skandieren sie: „Bruder Polizist, das Volk ist mit dir.“
Helfer reichen Coca-Cola-Flaschen, Dosentomaten und Zigaretten durch das Gittertor. Polizisten nehmen sie dankbar entgegen. „Keine Fotos von Gesichtern“, sagt eine Frau von der Vereinigung der Polizisten-Ehefrauen, die mit einer Gruppe von Polizeipensionisten zu den Wortführern gehört. „Wir wissen nicht, wie das hier enden wird.“
Das ist tatsächlich auch am Sonntag weiter unklar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation