Macht: Über Leben und Tod
Was bedeutet menschenwürdige Sterbebegleitung bei Menschen mit geistiger Behinderung konkret?
BETTINA GAUSist politische Korrespondentin der taz
Schon wieder so ein Fall, der einem das Herz zerreißt und bei dem man alle Beteiligten versteht: Soll Vincent Lambert, der 2008 einen schweren Unfall hatte und seither im Koma liegt, beim Sterben geholfen werden? Die Ehefrau und einige Geschwister sind dafür, die Eltern und andere Geschwister sind dagegen. Es ist davon auszugehen: Alle wollen nur das Beste für den Patienten.
Was würde man sich selbst wünschen, wäre man in der Situation von Vincent Lambert? Und was, wäre man seine Mutter oder seine Frau? Ich habe keine Ahnung. Aber eines weiß ich: Mir ist in den Medien derzeit zu viel von Sterbehilfe und zu wenig von Sterbebegleitung die Rede. Was nicht bedeutet – nein, so einfach ist es nicht –, dass ich die Diskussion über Sterbehilfe falsch fände. Gar nicht. Ich meine nur: Mir wird zu wenig über Alternativen geredet.
Was vielleicht auch daran liegt, dass die Alternativen eben komplizierter sind, teurer, langwieriger – und weniger geeignet für Schlagzeilen.
Bei einem Familienfest vor einigen Monaten rauchten meine Cousine Elisabeth und ich eine Zigarette vor der Tür. „Wir müssen ausprobieren, was menschenwürdige Sterbebegleitung bei Menschen mit geistiger Behinderung konkret bedeutet“, sagte Elisabeth. Die große Mehrheit derer, die jetzt alt wären, seien von den Nazis ermordet worden. „Da gibt es ein doppeltes Loch: Weder die Wohngruppe von Sterbenden noch die Betreuerinnen und Betreuer können auf Erfahrungen zurückgreifen.“
70 Jahre liegt das Ende des nationalsozialistischen Regimes jetzt zurück – und es gibt noch immer Opfer? Ja. Noch immer gibt es Menschen, die darunter leiden müssen, dass vor Jahrzehnten ihre Existenz als „unwertes Leben“ betrachtet wurde. Weil man eben noch weniger als bei anderen Bevölkerungsgruppen darüber nachgedacht hat, was ein würdiges Ende ihres Lebens bedeutet. „Bei uns kommen Entwicklungen der Gesamtgesellschaft immer etwas zeitversetzt an.“
Elisabeth Schick arbeitet seit vier Jahrzehnten in der Diakonie Neuendettelsau im Bereich stationäres Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung. Vor einigen Monaten wurde sie damit konfrontiert, dass bei einer 62-jährigen Frau unheilbarer Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert wurde. Die Frau hatte in der Einrichtung gelebt, seit sie 15 Jahre alt war.
„Sie war sehr lebenslustig“, erzählt Elisabeth. „Sie tanzte leidenschaftlich gerne Walzer.“
Krankenhaus, Palliativstation. Drei Wochen vor ihrem Tod kehrte die Patientin in ihr Zuhause zurück. „Die Wohngruppe ist wie eine Familie. Wir haben den Mitgliedern gesagt: Sie ist sehr krank. Sie wird nicht mehr aufwachen.“ Reaktionen? „So unterschiedlich, wie wir alle nun mal sind. Die einen gingen zum Sport, andere waren in Tränen aufgelöst. Manche fragten dauernd nach, andere bekamen Wutausbrüche.“
Sterbebegleitung ist nicht kostenfrei zu haben. Ein Pflegebett musste bereitgestellt werden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machten – befristet – geplante Überstunden. In Zusammenarbeit mit dem Hospizverein war ständig jemand ansprechbar, ein ambulantes Palliativteam verabreichte bei Bedarf schmerzlindernde Medikamente.
All das ist teuer. Viel teurer als Sterbehilfe.
Die Tür zum Zimmer der Sterbenden war nie geschlossen. Die meisten Mitglieder der Wohngruppe wollten sie besuchen, erzählt Elisabeth. Aber nicht jede Situation war leicht zu meistern.
Wie geht man mit eruptivem Blutspucken um? „Wir haben den Kolleginnen und Kollegen gesagt: Ihr habt drei Möglichkeiten. Ihr kippt um, ihr lauft schreiend raus, ihr wischt es auf. Und alle drei Möglichkeiten sind in Ordnung.“ Es sei vor allem um die Botschaft gegangen: „Alle mussten das Gefühl bekommen, dass die Situation leistbar war für sie.“
An einem Morgen um 6.30 Uhr starb die Frau. Als sich die Wohngruppe etwa zwei Stunden später um den Frühstückstisch versammelte, hat Elisabeth ihnen das gesagt. Im Laufe des Vormittags gingen alle noch einmal ins Zimmer der Toten und verabschiedeten sich.
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