„Wir brauchen keine Scheindebatte über Moral“
Der Geschäftsführer des Berliner Vereins Hilfe für Jungs, Lukas Weber, rät dazu, genau hinzusehen, wenn es um Sex gegen Geld zwischen Männern geht: Es gebe sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel – aber eben auch Sexarbeit, die aus freien Stücken ausgeübt werde
Interview Andreas Hergeth
taz: Herr Weber, wie viele männliche Sexarbeiter, wie der junge Mann aus dem Film „Boys Club“, gibt es in Berlin und in Deutschland?
Lukas Weber: Wir haben leider kein Zahlenmaterial, schon gar nicht deutschlandweit. Für Berlin geben unsere Jahresstatistiken Auskunft, mit wie vielen Menschen wir Kontakt in der Szene hatten. Unsere Mitarbeiter:innen treffen regelmäßig ein paar hundert Menschen, wir haben über 2.000 Kontakte im Jahr.
Hilfe-für-Jungs e. V. bietet Hilfe in verschiedenen Projekten an. Welche sind das?
Wir haben Subway als Anlaufstelle in der Kirchbachstraße in Schöneberg. Die wird von der Senatsjugendverwaltung gefördert, weil wir hier im Bereich des Kinderschutzes arbeiten, also mit Jungs und jungen Männern* unter 18 Jahren. Denn kein Minderjähriger darf oder soll oder muss sich prostituieren. Alles unter 18 gilt ohnehin als Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung. Wir werden auch im Bereich der Gesundheit gefördert, da geht es um HIV und sexuell übertragbare Krankheiten; wir sind zum Beispiel mit Ärzten in der Szene präsent.
Sie haben also einen guten Einblick in die Szene?
Wir haben einen guten Überblick darüber, was die offene mann-männliche Szene angeht, wie sie auch im Film dargestellt wird und wie sie im Schöneberger Norden und im Tiergarten stattfindet. Dort arbeiten hauptsächlich Roma aus Bulgarien oder Rumänien – diese Menschen würden wir aber nicht als Sexarbeiter bezeichnen, das würden die meisten von ihnen selbst auch nicht tun. Sie haben keine Eigenbezeichnung. Von Freiern werden sie Stricher genannt, das adaptieren sie ab und an, ohne die Bedeutung zu kennen.
Die Bezeichnung ist eine schwierige Angelegenheit. Sexarbeit ist nicht gleich Sexarbeit?
Ja, es wird ohnehin immer alles in einen Topf geschmissen. Aber gerade wir haben den Auftrag, zu differenzieren und zu sagen: Stopp! Es gibt Unterschiede zwischen Menschenhandel und sexueller Ausbeutung, Prostitution und Sexarbeit. Will man einen wirklichen Diskurs über das Thema führen, muss man definieren und vorab klären, wie man den Begriff meint. Nur dann können wir miteinander sprechen. Ansonsten hat jeder sofort irgendwelche Bilder im Kopf über die Jungs auf der Straße, über Zuhälter …
Mit welchen Problemen hat Ihre Klientel zu kämpfen?
Die Menschen, die wir treffen, sind oft mehrfach marginalisiert. Sie sind von Obdachlosigkeit, von Armut, von Migration und Flucht betroffen. Viele haben eine Drogenproblematik, wo schwierig zu erkennen ist, welches Problem zuerst da war. Verkaufe ich meinen Körper nur ab und an oder permanent? In diesen Spannungsfeldern bewegen wir uns mit unserem Projekt Subway.
Ein weiteres Projekt richtet sich gezielt an über 21-Jährige.
Es heißt Smart Berlin – und bei diesen über 21-Jährigen würde ich tatsächlich von Sexarbeitern sprechen. Das sind in der Mehrzahl Menschen, die freiwillig ihren Körper anbieten, denn das gibt es ja auch. Sexarbeiter stehen nicht immer nur auf der Straße und warten darauf, dass ein Auto anhält – das ist ein