Long Covid Awareness Day: Wir sind alle vulnerabel
Am 15. März ist Internationaler Long Covid Awareness Day. Millionen Betroffene warten auf Therapien. Wie steht es um sie?
W ie protestieren, wenn man zu krank ist, um das Haus zu verlassen? Ein guter Teil des #LongCovidAwarenessDay findet in Social Media statt: Betroffene sind aufgerufen, Fotos von sich selbst vor und nach der Infektion zu posten. In Berlin hängt eine Initiative vor dem Bundestag 500 Bilder von Erkrankten und ihre Arbeitskleidung an Wäscheleinen auf. So will sie darauf hinweisen, dass die Krankheit nicht nur für die Betroffenen schlimm ist, sondern auch ein enormer volkswirtschaftlicher Schaden entsteht.
Es ist das zweite Jahr, in dem Betroffenenorganisationen zu Protest am 15. März aufrufen, dieses Jahr auch unter dem Slogan #ConfrontLongCovid. Knapp vier Jahre ist es her, dass Patient*innen erstmals ihren Zustand Long Covid nannten, nachdem sie sich von einer akuten Covidinfektion nicht erholen konnten. Millionen Menschen weltweit sind durch die Folgen einer Covidinfektion chronisch krank. Es kann Personen jeden Alters, Geschlechts oder Gesundheitszustands treffen.
Bei anderen Protesten wurden Feldbetten oder Rollstühle mit Portraits benutzt, um die fehlenden Menschen zu vertreten. Für Liegenddemos werden solidarische „Stellvertreter*innen“ für Erkrankte gesucht, die für sie demonstrieren, wie in diesem Monat für ME/CFS und Long Covid in etlichen Städten geplant. Oder Werbeflächen werden gemietet, um auf ihnen Forschung an Therapien zu fordern. In Australien werden Gebäude und Brücken angestrahlt.
Hunderttausende Betroffene
Die geforderte Aufmerksamkeit für Long Covid ist kein Selbstzweck. Die Hoffnung ist, dass Aufmerksamkeit für das Problem auch mehr Hilfe folgt, und der Größe des Problems angemessene Summen in Versorgung und Therapie gesteckt werden, so dass es spürbare Verbesserungen gibt.
Zudem brauchen die Kranken von ihrem Umfeld Solidarität und Verständnis: Für die Einschränkungen, unter denen sie leiden und für die Hilfe, die sie benötigen. Auch müssen sie – wie auch andere vulnerable Gruppen – vor weiteren Infektionen geschützt werden. Von besserem Infektionsschutz profitieren allerdings auch aktuell Gesunde.
Niemand kann seriös sagen, wie viele Menschen insgesamt von Long Covid betroffen sind. Denn die Zahlen werden nicht systematisch erfasst und gehen teilweise stark auseinander, auch gibt es keine eindeutige Definition von Long Covid. Jedoch geben immer wieder kleinere Erfassungen Hinweise, dass es sich um ein enormes Problem handelt.
Die AOK hat kürzlich Zahlen veröffentlicht, die einen Einblick geben: Knapp 2 Prozent der berufstätigen AOK-Versicherten war zwischen 2020 und 2023 wegen Covidspätfolgen krankgeschrieben gegenüber 36,5 Prozent wegen einer akuten Coviderkrankung. Das sind laut AOK allein in dieser Personengruppe 126.154 Menschen. Besonders betroffen sind soziale und Gesundheitsberufe – in diesen arbeiten mehrheitlich Frauen und sie haben ein erhöhtes Infektionsrisiko. Die Zahlen seien möglicherweise unterschätzt – denn viele haben auch keine oder eine andere Diagnose als die hier verwendete, schleppen sich zur Arbeit, aber sind dennoch krank.
Keine zugelassenen Therapien
Vielen ist nicht bewusst: Zugelassene Therapien für Long Covid gibt es immer noch nicht. Es ist alles andere als leicht, ärztlich gut betreut zu werden oder in eine Long-Covid-Ambulanz zu kommen. Es gibt es nur eine sichere Form der Prävention: sich vor einer Corona-Infektion zu schützen. Eine glimpflich überstandene Infektion heißt leider nicht, dass es die nächste auch sein wird. Deshalb werden bei jeder Coronawelle auch weitere Long-Covid-Fälle hinzu kommen, solange es keine bessere Impfung und Therapien gibt.
Wie kommt es, dass es vier Jahre nach Pandemiebeginn immer noch keine zugelassenen Therapien gibt? Das Post-Covid-Syndrom kann unterschiedliche Formen annehmen, womöglich verschiedene Mechanismen haben. Ist Long Covid durch virale Persistenz verursacht? Werden andere Viren reaktiviert? Ist es eine Autoimmunreaktion? Hat das Virus neurologische oder Organschäden verursacht? Oder eine Kombination der Hypothesen?
Zu den Krankheitsmechanismen wird rege geforscht und es laufen auch etliche Medikamentenstudien. Aber für diese braucht es viel Zeit und Geld. Willige Studienteilnehmende gibt es genug, um manche Studien entwickelt sich ein regelrechter Hype. Es gibt so viele verzweifelte Betroffene, die alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel schon ausgeschöpft haben. Ohne Studienteilnahme sind Heilversuche wie Blutwäschen auch nur für wenige finanzierbar.
Besonders wichtig ist es bei Long Covid, diszipliniert unter der eigenen Belastungsgrenze zu bleiben und mit Energie zu haushalten. Sonst drohen etwas später heftigere Symptome und in manchen Fällen auch dauerhafte Verschlechterungen. Diese von ME/CFS-Patient*innen übernommene Strategie nennt sich Pacing – kann aber die Krankheit auch nicht heilen, nur managen.
Kleine Fortschritte
Das soll nicht heißen, dass es überhaupt keine Hilfe gibt. Patient*innen können ihre Beschwerden teilweise mit bereits üblichen Medikamenten, Anwendungen und Lebensstiländerungen lindern. Auch tut sich politisch ein bisschen: Im Bundesgesundheitsministerium gibt es Pläne, eine Liste mit Off-Label-Medikamenten zu erstellen, deren Einsatz bei Long Covid ausnahmsweise von den Kassen bezahlt werden soll. Aktuell zahlen Betroffene Off-Label-Medikamente selbst – sofern sie das Glück haben, dass ihnen sie jemand verschreibt. Das Bundesgesundheitsministerium bietet inzwischen eine Informationswebseite zur Aufklärung an. Auch wurden Millionen für Forschung zugesichert.
Allerdings stünden die Summen in keinem guten Verhältnis zu dem, was eigentlich gebraucht werde, kritisiert beispielsweise immer wieder die prominenteste Medizinerin in dem Feld, Carmen Scheibenbogen. Sie leitet die Immundefekt-Ambulanz der Charité Berlin.
Insgesamt wird die Versorgung von den Betroffenen aber als desaströs empfunden. Ihre aufwändigen Fälle treffen auf ein ausgebranntes Gesundheitssystem. Manchen helfen manche Therapieversuche, manchen hilft Zeit, manchen hilft noch nichts. Warum das so ist, ist noch nicht gut erforscht. Auch warum es manche Leute trifft, und andere nicht, ist nicht bekannt. Grundsätzlich sind alle vulnerabel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau