Londoner Dancefloorproduzent East Man: Plötzlich diese Unterschicht
Hi-Tek meets Low-Class: East Man und sein Album „Prole Art Threat“ fokussiert auf Raptalente: Wie bedrohlich ist der neue Proletkult aus London?
„Bedrohung durch proletarische Kunst“, was Popmusik anbelangt, ist der Albumtitel „Prole Art Threat“ ein Evergreen. Vor fast 40 Jahren, 1981, veröffentlichte die nordenglische Galionsfigur des Postpunk, Mark E. Smith, zusammen mit seiner Band The Fall den Song „Prole Art Threat“. Der Arbeitersohn Smith war äußert belesen, schon der Bandname The Fall entsprang dem Roman „Der Fall“ von Albert Camus. Die Musik von The Fall führte die existenzialistische Seite von simpler Rockmusik, die er bei Velvet Underground bewundert hatte, weiter.
Im Songtext von „Prole Art Threat“ spielt der Sänger eine fiktive Spionageaktion gegen Repräsentanten der britischen Workingclass durch, denn die stellen, so die Idee, eine Bedrohung für die etablierte Hochkultur dar. Begleitet von knapp zwei Minuten rasenden Gitarren und grollendem Schlagzeug.
Was Mark E. Smith in den Achtzigern eher spielerisch verstand, ist für den Londoner Grimerapper Anthoney Hart alias East Man heute der volle Ernst. Auf seinem Album „Prole Art Threat“ gibt er diversen KünstlerInnen aus den östlichen, meist prekären Quartieren der britischen Hauptstadt eine Chance, ihre Wut zu äußern. East Man selbst nennt seine Musik nicht HipHop oder Grime, sondern Hi Tek.
Harscher Sprechgesang
Harscher Sprechgesang mit fetten elektronischen Beats. Der Gedanke an Kraftwerk liegt nahe, East Man mischt traditionelle Reimschemata mit Drum ’n’ Bass, Techno und Dancehall, aber auch karibische und afrikanische Sounds tauchen auf. In all den Dancefloorgenres erkennt Anthony Hart moderne proletarische und großstädtische Kultur. Wenn er auf all dieser Historie seine Tracks einfühlsam aufbaut, so hört man doch den wirklich neuen Stil erst dann, wenn die Rapper*innen und Sänger*innen aufdrehen.
East Man: „Prole Art Threat“ (Planet Mu/Cargo)
East Man hat neun Vokalisten aus dem Osten Londons, alle noch am Anfang ihrer Karriere, Instrumentals vorgelegt und sie breiten sich auf diesen aus: Ny Ny – eine Londonerin mit vietnamesischen Wurzeln – benutzt in „Who Am I“ die Silben ihres eigenen Namens, um eine bitterböse Geschichte über Identität zu erzählen. Das tun viele auf diesem Album. Streema, ein Talent aus dem südöstlichen Stadtteil Lewisham, klingt im Auftaktsong „Know Like Dat“ atemlos. Der brasilianische Newcomer Fernando Kep demonstriert in „Ouroboros“, wie kunstvoll man den Flow des Rap ausschmücken kann.
Ähnlich wie Mark E. Smith sieht sich East Man als Sprecher der Arbeiterklasse und möchte sein Album als „Spiegelbild der Kreativität des Proletariats“ verstanden wissen und aufzeigen, „wie das Establishment uns marginalisiert und (vielleicht auf unbewusster Ebene) als Bedrohung sieht.“ Es geht um die breite rhythmische Gegenwehr zur hochbürgerlichen Doppelmoral, aber es wird auch die alltägliche Polizeigewalt thematisiert.
Zurück ins East End
Angefangen hat der heute 41-jährige East Man Ende der Neunziger als Drum-’n’-Bass-DJ. Später hat er sich für experimentelle Elektronik begeistert, doch irgendwann musste Hart heraus aus den snobistischen Zirkeln der Mittelklasse und zurück ins East End, in die ihm wohlbekannten proletarischen Milieus von London. Mark E. Smith schrieb seinen Songtext 1981 aus dem Blickwinkel arbeitsloser Industriearbeiter in Manchester. East Man denkt heute vor allem an die Tausenden Teenager im Londoner Osten, die am meisten unter der Gentrifizierung leiden.
Empfohlener externer Inhalt
Ease Up
Er will mit seinem Hi-Tek-Sound den Antagonismus bilden zur „High Art“ der Hipster-Kultur mit ihren Clubs, Galerien und Läden, die eine Bedrohung durch proletarische Kunst dringend nötig haben. Neben Hi-Tek-Rap gibt es auch reine Instrumentals und sogar einen Spoken-Word-Track, in dem sich junge Frauen darüber aufregen, dass die HipHop-Heinis immer mehr zu Machos mutieren, je älter sie werden. Das klingt besonders im Vergleich zum Hochglanzsound des US-HipHop wirklich subversiv – und vermittelt ein Gefühl der Verzweiflung, das der Mainstream fast vollständig verloren hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen