Lola Arias über ihren Film „Reas“: „Kein Spektakel der Gewalt“
An Orten des Schreckens tanzend die bösen Geister vertreiben: Die argentinische Regisseurin Lola Arias hat einen Film mit Häftlingen gedreht.
taz: Frau Arias, mit „Reas“ sind Sie zum zweiten Mal mit einem Beitrag im Berlinale Forum vertreten. Er wurde in einem ehemaligen Gefängnis in Buenos Aires gedreht. Wovon erzählt der Film, was war das Besondere dieser Produktion?
Lola Arias: Der Film ist an einem realen, historischen Ort gedreht, in einem Gefängnis, das 2001 geschlossen wurde. Es spielen zudem Personen mit, die zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Frauengefängnissen in Argentinien inhaftiert waren. „Reas“ basiert auf ihren realen Erfahrungen. Das Drehbuch habe ich auf Grundlage von Interviews geschrieben, die wir mit ihnen geführt haben. Es geht also um die Umwandlung dieser Erfahrungen in Fiktion. In ihr gibt es Yoseli, die wegen Drogenhandels verhaftet wird und sich im Gefängnis in einer unbekannten Welt wiederfindet. Einer der Mitgefangenen ist Nacho, ein junger trans Mann, der wegen Betrugs im Gefängnis sitzt. Und wir lernen viele andere kennen, die im Film auftauchen.
Der Film entwickelte sich aus einem Workshop, den Sie im Gefängnis von Ezeiza angeboten hatten. Wie kam es dazu?
Es war ein Kino- und Theaterworkshop, den ich 2019 veranstaltet hatte. Im Gefängnis fing ich bereits an, Darstellungen und Szenenkonstruktionen auszuprobieren, auch unter Einsatz von Musik und Choreografie. Da begann ich über einen Film als eine Art Musical nachzudenken. Singen und tanzen ist wichtig, um sich auszudrücken und Spaß zu haben. Um dem Körper eine Freiheit zu geben, die im Gefängnissystem nicht vorhanden ist.
20. 2., 19 Uhr, CineStar Cubix 7.
23. 2., 19 Uhr, Zoo Palast 2
Was bedeutet „Reas“? Der Titel erinnert mich an den bekannten Rechtsspruch „In dubio pro reo“, „Im Zweifel für den Angeklagten“.
Das ist doppeldeutig gemeint. Denn umgangssprachlich bedeutet una rea am Río de la Plata auch „eine Verrückte“. Aber auch mit der Bedeutung, dass man eine rea ist, weil man verrückt und rebellisch, unvoreingenommen ist, man Dinge außerhalb der Norm tut.
Sie sind vor allem als Theaterregisseurin bekannt. Im März wird Ihr Stück „Lengua madre“ („Mother Tongue“) im Berliner Maxim Gorki Theater erneut zu sehen sein. Was bietet Ihnen das Kino, was das Theater nicht hat?
Zum Beispiel die Möglichkeit, in anderen Räumen als dem Theater zu arbeiten. Bei „Reas“ etwa im realen Raum des Gefängnisses. Mir ging es darum, durch die historische und symbolische Aufladung diesen Ort, diese Ruine in einer künstlerischen Produktion in etwas anderes zu verwandeln.
Es gibt diese Szene zum Ende des Films, in der Nacho und Yoseli den Faden verlieren. Das ist ein irritierender Moment. War das so geplant?
Nein, aber wir haben entschieden, es beizubehalten, um zu zeigen, wie viel Arbeit in diesen kleinen Dingen steckt, diesem kleinen Flirtgespräch, das sehr spontan wirkt, bei dem Nacho auf ihre Hand schaut und sagt: „So wird dein Leben sein.“ Und sie lächeln sich gegenseitig an. Es wirkt, als würde die Kamera etwas beobachten, das auf magische Weise geschieht. Aber in Wirklichkeit ist es eine komplett vorgeplante Szene. Deshalb fanden wir es schön, dass sie an einer Stelle merken, dass sie sich im Text verirrt haben, und gleichzeitig weiterflirten. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion der Beziehung bleibt so geheimnisvoll.
Von Rock bis Bolero, von Reggaeton bis Cumbia. All diese Musikstile tauchen in „Reas“ auf. Was bedeuten sie für die Geschichte des Films?
Mit Ulises Conti, der die Musik für den Film geschrieben hat, waren wir uns einig, dass die Musik eine Beziehung zu den einzelnen Biografien, zu ihren Körpern und Geschichten haben muss. Das Potpourri der Genres hat also damit zu tun, dass jedes Musikstück für jede Figur eigens konzipiert wurde. Jeder Song hat mit Dingen zu tun, die die Personen mitgebracht haben.
Paulita, die junge Frau, die am Telefon das Lied „Ay amor“ singt, war Sängerin in einer Cumbiaband. Wir haben dann ein Lied umgeschrieben, das sie gesungen hat, bevor sie ins Gefängnis kam. Und Nacho, der junge trans Mann, liebt Rock ’n’ Roll. Er hat mir Videos gezeigt, in denen er im Gefängnis Rock ’n’ Roll tanzt. Also haben wir die ganze Hochzeitsszene mit Rock ’n’ Roll in Verbindung gebracht. Yoseli ist eher eine Popfigur. Und so lebt sie auch ihre Träume von Paris und New York in einem Popsong.
Yoseli scheint jünger und weniger erfahren als die Mithäftlinge zu sein. Viel Zeit verbringt sie damit, Telenovelas zu schauen, um sich aus dem Gefängnisalltag in eine bessere Zukunft zu träumen. Vermutlich hatten auch die Protagonisten die Hoffnung, dass sich mit dem Filmprojekt ihr Leben verändern könnte. Wie sind Sie mit dieser Erwartung umgegangen?
Der Film will nicht wie all diese Fernsehserien das Gefängnis als ein einziges Spektakel der Gewalt darstellen. Ich wollte auch nicht, dass es ein Gespräch über Gefängniserfahrungen wird. Ich wollte, dass diese Personen ihre Vergangenheit durch das Spiel rekonstruieren können. Um so auch die Schönheit, das Licht, die Liebe, die schönen Dinge der Solidarität zu zeigen, die inmitten einer Situation des Schreckens und der Unterdrückung geschehen, wenn man seiner Freiheit beraubt wird. Diese Menschen sind nicht nur Opfer der Umstände. Sie haben auch viel zu geben und reflektieren über das, was ihnen widerfahren ist. In diesem Sinne ist der Film vielleicht auch ein Wendepunkt in ihrem Leben.
Natürlich wird der Film nicht wie mit einem Zauberstab ihr Leben verändern. Aber ich erinnere mich an einen der Drehtage: Ich hatte eine Szene korrigiert, und ich sagte: Estefi, sehr gut, unglaublich, was du in dieser Szene gemacht hast. Ich gratulierte ihr. Sie drehte sich zu mir und sagte: Es ist lange her, dass mir jemand gesagt hat, dass ich etwas gut gemacht habe. Das versetzte mir einen Stich, weil ich spürte, wie hart es ist, dass man die ganze Zeit keine Anerkennung, keine Wertschätzung bekommt und sich als Person abgewertet fühlt. Im März gehe ich zurück nach Argentinien. Das Projekt endet für mich nicht mit dem Film, sondern der Film ist Teil des Projekts. Wir beginnen dann mit der Inszenierung eines Theaterstücks, das im Mai in Argentinien uraufgeführt wird und anschließend auf europäischen Festivals tourt. Nicht mit allen 14, aber mit sechs der Protagonistinnen.
Das zerfallene Gefängnis von Caseros in Buenos Aires wirkt als Schauplatz des Films viel weniger bedrückend, als es seine reale Geschichte nahelegt. Caseros war ursprünglich eines der unzähligen Folterzentren während der argentinischen Militärdiktatur. Wie sind Sie damit umgegangen?
Bei meinem ersten Besuch in Caseros war ich erschüttert. Wenn man diesen Ort betritt, spürt man die Geister der jahrelangen Unterdrückung, der Gewalt, der Folter. Es ist eiskalt, man bekommt eine Gänsehaut. Aber gleichzeitig, und das ist interessant, dient diese Ruine derzeit als Filmkulisse für Serien. Die Schichten von Realität und Fiktion vermischen sich in den Räumen. Die Drehtage wurden mit der Zeit zu einer magischen Sache. Wir spürten am Anfang den Druck dieses schweren Orts, doch mit der Zeit gelang es uns, die Atmosphäre zu verändern. Wir machten Witze darüber, dass wir die bösen Geister tanzend vertrieben hatten. Wir haben die Energie des Orts verändert. Und wir empfanden ihn nicht mehr als einen Ort der Unterdrückung, sondern als unseren.
Die Protagonisten in „Reas“ sind cis oder trans Frauen, hetero oder queer. So macht der Film auch unterschiedliche Erfahrungen und Identitäten sichtbar. In den vergangenen Jahren hat die argentinische Zivilgesellschaft viel erreicht. Feministische Bewegungen wie Ni una menos gegen Femizide oder Massenproteste für das bedingungslose Recht auf Abtreibung haben auch soziale Bewegungen in den lateinamerikanischen Nachbarländern ermutigt. Doch im November 2023 wurde in Argentinien der ultraliberale Javier Milei zum neuen Präsidenten gewählt. Was bedeutet dieser Regierungswechsel für die argentinische Gesellschaft, für Menschen wie Nacho, Yoseli, Noelia oder Estefi – was für die Kultur in Argentinien?
Es war ein Schock. Als Milei gewann, haben die Protagonisten meines Films geweint. Paula aus Peru hat keine Papiere und fürchtet, aus Argentinien abgeschoben zu werden. Noelia, eine trans Frau, wurde am Tag nach dem Sieg von Milei auf der Straße angegriffen. Dasselbe geschah mit Nacho. Die extreme Rechte in Argentinien glaubt, sich alles herausnehmen zu können. Ihre Agenda zielt darauf ab, so mühsam erkämpfte Rechte wie die des Abtreibungsgesetzes oder des Transgender-Quotengesetzes zu beseitigen. Milei attackiert Kunst und Kultur. Er hat versucht, den Nationalen Fonds für die Künste zu schließen, auch die wichtigste Filmschule in Argentinien. Er liberalisiert die Sozialgesetzgebung, also Arbeits-, Miet- und Rentenrechte, was besonders die Menschen in prekären Lagen trifft. Das werden vier sehr harte Jahre.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus