Literaturwissenschaftlerin über Erinnerungskultur: „Auch Bildungsreisen sind Tourismus“
„Dark Tourism“ ist oft negativ konnotiert. Katie Markham forscht und erklärt am Beispiel der nordirischen Stadt Belfast, warum das nicht so sein muss.
taz: Frau Markham, Sie forschen an der Schnittstelle von Erinnerungskultur und Tourismus. Was haben diese beiden Dinge miteinander zu tun?
Katie Markham: Sehr viel. Erinnerungsorte sind häufig auch touristische Ziele, das wird gerne vergessen. Denkmäler gehören zum festen touristischen Programm in vielen Städten. Wer nach Berlin fährt, schaut sich neben dem Brandenburger Tor vermutlich auch mindestens einen Erinnerungsort an. In Belfast werden touristische Touren zu den Murals, die an Ereignisse im Nordirlandkonflikt erinnern, immer populärer. Von Polen bis Kambodscha werden Erinnerungsorte auch als touristische Ziele beworben. Zudem sind auch Bildungsreisen eine Form von Tourismus.
ist Literaturwissenschaftlerin an der Newcastle University. Ihre Doktorarbeit handelt von touristischen Angeboten zu den Troubles in Belfast, Nordirland.
Dennoch spielt Tourismus in der Auseinandersetzung um Erinnerung oft keine große Rolle und wird auch in anderen Disziplinen der Kulturwissenschaft oft ausgeklammert. Woran liegt das?
Ich denke, einer der Gründe dafür ist, dass Tourismus einen schlechten Ruf hat. Wir wollen Reisende oder Forschende sein, aber keine Tourist*innen. Und dieser schlechte Ruf des Tourismus überträgt sich auch auf die akademischen Disziplinen. Seit Jahren gibt es kritische Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Dark Tourism“ – also „Dunklem Tourismus“ – aber diese sind häufig sehr negativ konnotiert: Einerseits durch die Annahme, dass „Dark Tourism“ nur etwas für Menschen ist, die ein perverses Interesse an schrecklichen historischen Ereignissen haben, andererseits durch die Vorstellung, dass Tourismus die Komplexität historischer Ereignisse reduziert, um sie konsumierbar zu machen. Dieses Risiko besteht natürlich, auch in meiner Forschung taucht es immer wieder auf.
In der Netflix-Serie „Dark Tourist“ wandelt der Journalist und Schauspieler David Farrier auf den Spuren von Pablo Escobar und John F. Kennedy, besucht Spukhäuser und reist in die Sperrzone von Fukushima. Ist das Dark Tourism?
Das ist die Klischeevorstellung, die ich meine. Das Vorurteil von Dark Tourism als eine Art des Reisens, die immer auf der Suche nach einem neuen, möglichst makaberen Kick ist. Man kann jedoch sehr viel unter diesem Begriff fassen, es gibt keine feste Definition. Grundsätzlich geht es um Reisen an Orte, die mit Tod oder Gräuel verbunden sind. Darunter mögen zwar auch reißerische Dinge fallen, aber eben auch Besuche in KZ-Gedenkstätten oder im Fall meiner Forschung Orte, die während der Hoch-Zeit des Nordirlandkonflikts traurige Berühmtheit erlangt haben. Als Motivation hinter diesen Reisen steht nicht zwangsläufig ein Bedürfnis nach Grusel oder Exotik, es kann auch ein Interesse an Geschichte und Politik sein, der Wunsch, etwas zu lernen und sich auch mit den weniger schönen Seiten des Urlaubsortes zu beschäftigen. Ich verwende daher auch lieber den Begriff des Politischen Tourismus, weil er genauer und weniger normativ ist.
Wie sieht der Tourismus zu den Orten des Nordirlandkonflikts aus?
Es gibt verschiedene Angebote, aber ich habe vor allem die sogenannten Black-Cab-Tours erforscht. Dabei fährt man mit einem Tour-Guide im Taxi durch die segregierten Stadtviertel von Belfast zu beiden Seiten der „Friedenslinie“. Die Guides haben entweder einen republikanischen oder einen unionistischen Hintergrund, manchmal sind sie ehemalige Paramilitärs. Interessant ist, dass sie meisten sich sehr um Ausgeglichenheit in ihren Erzählungen bemühen. Sie verbringen viel Zeit mit Recherchen und Gesprächen mit Menschen der „anderen Seite“ und versuchen, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die andere Seite den Konflikt sieht, und dies dann den Tourist*innen zu vermitteln. Dabei leisten sie wirklich gute Arbeit. Die Lerneffekte, sowohl bei den Besucher*innen als auch bei den Guides, sind ein sehr positiver Aspekt des Politischen Tourismus.
Das klingt nicht unbedingt negativ.
Das stimmt, aber es gibt auch Schattenseiten. Die Guides, mit denen ich gesprochen habe, haben auch von den Vorurteilen einiger der internationalen Tourist*innen, welche diese Touren überwiegend buchen, erzählt. Einige kommen mit einer vorgefassten Meinung, wer die „echten“ Opfer des Konflikts waren. Meist unterstützen Tourist*innen eher den Republikanismus. In diesen Fällen können die Touren dazu führen, dass diese Meinungen nur bestätigt werden. Das hängt von der Reflexionswilligkeit der Besucher*innen ab, aber auch vom Guide.
Politischer Tourismus kann in Belfast also auch zur Verständigung beitragen?
Ja und nein. Da es sich um eine informelle Form des Tourismus handelt, die nicht reguliert ist, können die Erfahrungen sehr unterschiedlich sein. Das ist auch ein Problem des Politischen Tourismus, den einige der Guides, die ich interviewt habe, angesprochen haben: Da die Touren nicht reguliert sind, wird es immer jemanden geben, der nur das schnelle Geld machen will und nicht recherchiert, sodass man am Ende eine sehr einseitige Darstellung bekommt. Aber die seriöseren Guides betonen, dass es ihnen wirklich wichtig ist, sich mit der anderen Gemeinschaft auseinanderzusetzen.
Was macht diese Art des Tourismus mit den Guides?
Manche haben sehr offen darüber gesprochen, wie viel Angst sie zu Beginn ihrer Arbeit hatten. Für einige von ihnen war ihre erste Tour das erste Mal, dass sie auf die andere Seite der „Friedenslinien“ gingen. Sie hatten Angst an diesen Orten, denn während der Troubles war es extrem gefährlich, als republikanische Person in ein unionistisches Viertel zu gehen und umgekehrt. Doch mit der Zeit begannen sie, sich mit den jeweiligen Leuten vor Ort auseinanderzusetzen und Gespräche mit ihnen zu führen. Ich erinnere mich an einen Guide, der früher Mitglied der IRA war. Er geht mit seiner Tour auch in die unionistische Shankill Road. Dort war dieser alte Mann, der ihn immer mit jemandem verwechselte und stets grüßte, über Monate hinweg. Während einer Tour erzählte der Guide dann einer Gruppe Tourist*innen die Geschichte eines der Murals, und dann kam der Mann mit seinem Hund vorbei, hörte zu und ergänzte die Erzählung mit seiner Ortskenntnis und Aspekten, die der Guide bis dato nicht kannte. Nun integriert er die Geschichten des Mannes in seine Führung. Für ihn war das einer der Momente, in denen der Tourismus eine der durch den Konflikt geschaffenen Grenzen durchbrach.
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