Literaturwissenschaftlerin über Denken: „Jenseits der Disziplin“
An den Universitäten dominieren derzeit identitätspolitische Debatten statt freies Denken, sagt die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel.
taz am wochenende: Frau Weigel, Sie waren als Literaturwissenschaftlerin maßgeblich daran beteiligt, dass Genderforschung, interkulturelle Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft sich als interdisziplinäre Forschung an den deutschen Universitäten etablieren konnte. Heute aber machen die Universitäten vor allem von sich reden, weil sie Vorlesungen oder Veranstaltungen aus „Sicherheitsgründen“ absagen. Was ist da los?
Sigrid Weigel: Pauschale Aussagen sind in dieser Hinsicht schwierig. Die Universität war früher ein Ort lebhafter Auseinandersetzung, politisch-ideologisch und inhaltlich-wissenschaftlich. Das sollte sie auch bleiben. In den letzten Jahren aber wird der Diskurs deutlich moralischer und normativer, das Feld für offenen, argumentativen Streit enger.
Was eigentlich genau das ist, wogegen die von Ihnen so genannte „erste Kulturwissenschaft“ mal angetreten war.
Ja, eben. Ihre Ansätze wurden Anfang des 20. Jahrhunderts überwiegend von Außenseitern und deutsch-jüdischen Intellektuellen wie Aby Warburg, Georg Simmel, Walter Benjamin, Sigmund Freud und anderen entwickelt, von denen viele außerhalb oder am Rande des akademischen Systems arbeiteten. Sie fühlten sich, wie Benjamin das so schön formuliert hat, in Grenzgebieten zu Hause. Er nannte das Schwellenkunde. Es geht darum, Differenzen zu denken, Ambivalenzen anzuerkennen. Mich fasziniert diese intellektuelle Bewegung, die gleichsam von der Rückseite eines kolonialistischen, nationalistischen Europas entstanden ist. Heute scheinen aber in den Geisteswissenschaften Eindeutigkeiten, Wahrheiten, Lösungen und Identitäten eher gefragt zu sein.
Die Professorin
1950 in Hamburg geboren, war u.a. Professorin für Literaturwissenschaft in Hamburg, Zürich, Berlin und Princeton, Direktorin des Einstein Forums Potsdam, des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL) und im Vorstand des Kulturwissenschaflichen Institus Essen.
Die Schriften
Verfasste und edititierte zahlreiche Monographien und Sammelbände, u.a. "Grammatologie der Bilder" (Suhrkamp 2015). Ihre Studie über die transnationale Zukunft der auswärtigen Kulturpolitik steht auf der Homepage des ZfL.
Eine Reaktion auf das allzu offene Offene der Kulturwissenschaft? Die war mal sehr umstritten in den Geisteswissenschaften und als Modefach verschrien, über das gewitzelt wurde, es beschäftige sich mit allem und nichts.
Kulturwissenschaft heißt nicht, alles und nichts zu untersuchen. Und für mich ist Kulturwissenschaft ohnehin kein Fach, sondern eine Arbeits- und Denkweise.
Inwiefern?
Man kann beispielsweise an Freuds Schriften studieren, wie Erkenntnisprozesse verlaufen, die offen mit eigenen Hypothesen umgehen und ständig die Grenzen eigener Annahmen reflektieren. Arbeit an Übergängen heißt, die jeweiligen Betrachtungsweise nicht nur auf ihre Möglichkeiten hin zu reflektieren, sondern auf die damit notwendig einhergehenden Ausschlussmechanismen. Im Grunde ist es die Denkbewegung der heute so sehr in Verruf geratenen Dialektik.
Die Dialektik auch? Ich dachte, nur Adorno trende nicht mehr.
Dialektik heißt, sich den Unvereinbarkeiten auszusetzen. Deren Dynamik hat Hölderlin zum Beispiel in „Das Werden im Vergehen“ wunderbar beschrieben: wie dem Prozess, in dem etwas aus dem Status des Möglichen in den des Wirklichen oder Faktischen tritt, stets eine Auflösung einhergeht.
Die Kulturwissenschaft kann also selbst gar nichts dafür, dass sie nicht mehr so attraktiv ist?
Sicher gibt es auch Tendenzen zur Beliebigkeit. Doch im Moment dominieren identitätspolitische Debatten und nicht selten eine Hermeneutik des Verdachts. Ganz problematisch wird es, wenn wir dahin kämen, dass nur noch Frauen über Frauen, Schwarze über Schwarze, Juden über Juden arbeiten dürfen, wenn die Herkunft also über die Legitimität der Rede oder die Wahrheit von Aussagen entscheidet. Dann verschanzen wir uns in separierte Denk-Ghettos.
Dabei kreist die identitätspolitische Kritik doch gerade um die Akzeptanz des Anderen.
Das ist genau das Problem. Die postkoloniale Theorie ist ja mal aus der Perspektive des Anderen und im Blick auf kulturelle Differenzen entstanden; sie hat dann aber eine globale Wirkungsgeschichte entfaltet, mit denselben Begriffen, Denk- und Argumentationsmustern unabhängig von spezifischen lokalen Verhältnissen und kulturellen Differenzen. Dabei hat sie sich tendenziell in einen hegemonialen Exportartikel der akademischen Eliten der USA verwandelt und zudem noch den Trend zur Einsprachigkeit verstärkt. Politisch prekär ist aber vor allem, dass dadurch, dass die Machtverhältnisse primär auf der kulturellen Ebene abgebildet werden, die ökonomischen Verwicklungen der heimischen Eliten in die postkolonialen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen im Schatten bleiben. Wobei die Fixierung auf „den Westen“ zudem der derzeit laufenden, subtileren Kolonisierungspolitik Chinas zum Vorteil gereicht.
Ist der Postkolonialismus also eine Art Entlastungsstrategie?
Dadurch, dass Europa moralisch unter Druck geraten ist, kommt es teils zu vorauseilendem Gehorsam. Anstatt sich mit der eigenen Kolonialgeschichte und dem tief im kulturellen Unbewussten Europas verankerten Überlegenheitsgefühl auseinanderzusetzen, greift man zu hilflosen symbolpolitischen Gesten, etwa der Verleihung von Preisen an Künstler und Wissenschaftler aus dem Globalen Süden. Doch zum Glück hat die Auseinandersetzung durch die Restitutionsdebatte endlich, wenn auch viel zu spät, an Fahrt aufgenommen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Ist die documenta fifteen grandios gescheitert?
Da ich nicht da war, kann ich es nicht wirklich beurteilen. Aber die ganze Geschichte des Skandals ist symptomatisch für die fehlende offene und offensive Auseinandersetzung, sowohl mit den europäischen Klischees anderer Kulturen als auch mit den Stereotypen des postkolonialen Diskurses.
Ist es mit der politischen Kunst wie mit dem Humor, der ja inzwischen auch schon museumsreif ist? Sind diese Werkzeuge der Kritik veraltet, nicht mehr zu gebrauchen?
Nein. Von der Kunst kommen wichtige Impulse. Auf der Biennale in Venedig kann man zwar auch sehen, wie aus globalen Ideologien viel Kitsch entsteht; doch andererseits gibt es großartige Arbeiten, in denen Künstler/innen sich auf lokale materielle Praktiken beziehen, um radikal gegenwärtige Kunstwerke zu schaffen: etwa Małgorzata Mirga-Tas im polnischen Pavillon mit ihrem textilen Fresko „Re-enchanting the World“ oder Ali Cherri aus Beirut mit seinen überdimensionalen hybriden Lehmskulpturen. Aber selbstverständlich hat Kunst auch als Agitprop ihre Berechtigung. Ob die documenta dafür der richtige Ort ist, muss man diskutieren.
Die documenta fifteen ist in vielfacher Hinsicht eine Grenzüberschreitung gewesen. In Ihrer literaturwissenschaftlichen Karriere vom Feminismus zur Genetik, vorbei an der künstlichen Intelligenz und sogar der osteuropäischen Kulturgeschichte haben ja auch Sie immer wieder Grenzen überschritten. Lieben Sie die Gefahr oder woher die nie endende Lust aufs Neue?
Es geht mehr um Neugier und Wissenwollen. Ingeborg Bachmann hat mal gesagt, Darstellung verlange Radikalisierung und komme aus Nötigung. Das gilt auch fürs Denken. Wissenschaft hat die Aufgabe, die aktuellen Probleme besser durchschaubar zu machen, sozusagen hinter die Benutzeroberfläche zu schauen. Das Überschreiten der Fachgrenzen wird uns doch von immer komplexeren Problemen aufgenötigt; die richten sich schließlich nicht nach Disziplinen. Aber selbstverständlich gibt es einen roten Faden bei mir; das ist die Frage nach den kulturellen und wissenschaftlichen Voraussetzungen jener Probleme, die uns auf den Nägeln brennen. Und das geht nun mal nicht, wenn der Schuster bei seinen Leisten bleibt.
Haben Sie sich irgendwann angesichts immer neuen Materials mal gedacht: Ach, wäre ich nur bei meinen Leisten geblieben?
Nein, nie. Für eine enge Spezialdisziplin bin ich nicht geeignet. Man braucht aber auf jeden Fall ein Standbein in einem Fach, bei mir ist es die Philologie. Deren Öffnung zur Kulturwissenschaft ist in der Uni natürlich auch auf Widerstände gestoßen, zumindest früher. Insofern war es ein Glücksfall für mich, dass ich 1999 das Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung mit der Vorgabe „kulturwissenschaftlich, interdisziplinäre, international“ übernehmen konnte.
Ihre ehemalige Schülerinnen und Kolleginnen aus dem ZfL, wo Sie bis 2015 Direktorin waren, haben zu Ihrem 70. Geburtstag eine Webseite für Texte entwickelt, die mit Ihrer Art zu forschen korrespondieren und diese fortsetzen; der Titel ist „undisciplined thinking“. Treffer?
Das gefällt mir. Das ist witzig, geistreich und doppeldeutig, und trifft meine Arbeitsweise sehr gut: jenseits der Disziplin und nicht disziplinär, und nicht immer auf ausgetretenen Pfaden.
War es schwierig als eine der ersten und jüngsten Professorinnen in der Geisteswissenschaft?
Die Anfänge waren nicht ohne. Anfang der achtziger Jahren gab es ja noch kaum Frauen in der Literaturwissenschaft. Als ich erstplatziert war für eine Professur, fand der Akademische Senat der Uni Hamburg, man könne die Stelle doch eigentlich streichen. Der politische Senat hat dann aber anders entschieden und mich berufen. Sicher hat da die große Protestwelle von Wissenschaftlerinnen, gerade auch aus dem Ausland, geholfen, viele aus dem Netzwerk „Frauen in der Literaturwissenschaft“, das wir in Hamburg initiiert hatten.
Hat es Ihnen in Ihrer Pionierrolle vielleicht sogar geholfen, eine Frau zu sein, von der man sich frischen Wind erwartete?
Das kann man so nicht sagen. Wo es wenige Frauen gibt, werden diese gern mit Aufgaben überfrachtet, seit in jeder Kommission eine Frau vertreten sein sollte. Wissenschaftspolitik war und ist mir sehr wichtig. Aber ich möchte nicht die Aktenordner zählen, die ich mit Gutachten, Stellungnahmen und anderem gefüllt habe. Im Übrigen war ich immer skeptisch gegenüber Regelungen der Frauenförderung.
Warum?
Es gibt da einen prekären Zusammenhang von Paternalismus und der Förderung jüngerer Frauen. Dagegen tut sich die Öffentlichkeit schwer, die Leistungen älterer weiblicher Intellektueller wahrzunehmen. Wenn man die Gender-Machtstrukturen ändern will, müsste man eher oben ansetzen, bei den prestigereichen Positionen, etwa in den Akademien.
Im Rahmen der aktuellen Politisierung scheint auch unter jüngeren Menschen ein Interesse an Ihren frühen Arbeiten erwacht zu sein. So waren Sie kürzlich eingeladen, im Rahmen einer Tagung zu aktivistischem Schreiben über Ihre Doktorarbeit zu den Flugschriften von 1848 zu sprechen.
Das ist lustig, ja. Auch meine früheren Texte zur feministischen Theorie werden derzeit wieder rezipiert, zum Beispiel zum „schielenden Blick“, das heißt, ein Auge blickt auf Genderstrukturen, das andere in die große, weite Welt. Bei meiner Untersuchung der Flugblätter war Sergej Tretjakov mit der Idee eingreifender Literatur Stichwortgeber. Es ging darum, wie ein neues Medium eine neue Öffentlichkeit ermöglicht, in der das Publikum zum Akteur wird.
Die internationale Öffentlichkeit kann Deutschland wegen seiner Russlandpolitik grade nicht so richtig gewinnen. Sie haben der deutschen Politik schon 2019 im Rahmen einer vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) beauftragten Studie zur transnationalen Zukunft der auswärtigen Kulturpolitik den Verlust der Glaubwürdigkeit attestiert.
Dafür bin ich damals schwer angegriffen worden, doch heute ist das Thema in jeder Talkshow. Das erklärte Ziel der auswärtigen Kulturpolitik, Deutschland als verlässlichen Partner in der Welt zu vertreten, wird ja zunehmend schwieriger. Mir ging es auch darum, dass eine avancierte auswärtige Kulturpolitik, die sich an Menschenrechten orientiert – und so steht es auf der Homepage des Auswärtige Amtes –, durch die internationalen Wettbewerbsinteressen Deutschlands und Europas konterkariert wird. In denkbarer Klarheit hat der damalige Wirtschaftsminister angesichts der Proteste gegen Chinas Hongkong-Politik gesagt, wir könnten unsere Handelspolitik schließlich nicht an den Prinzipien der Menschenrechte ausrichten. Und das Afghanistan-Desaster und die gegenwärtige unentschiedene Russland-Politik sind natürlich eine Katastrophe für die auswärtige Kulturpolitik.
Geht es dabei auch um den Kulturbegriff?
Die Akteure auswärtiger Kulturpolitik in den Goethe-Instituten arbeiten längst mit einem avancierten Konzept von Kultur, das die Kultur des Wirtschaftens einschließt, und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft. Wenn die jedoch blockiert ist, muss man versuchen, die Verbindungen zu ihr und zu demokratischen Akteuren nicht abreißen zu lassen. Schwierig wird das allerdings, wenn man bei den Partnerländern nur noch auf Funktionäre trifft, wie das im Falle Chinas tendenziell der Fall ist.
Kann Kultur in diesem Zusammenhang helfen?
Kulturpolitik kann und muss andere Wege gehen als die Diplomatie; sie ist damit auch eine Chance. Wo die Politik zu Recht Sanktionen als Druckmittel einsetzt, sollte die Kulturpolitik nicht gleichziehen mit einem Boykott, einer kulturpolitischen Variante von Sanktionen. Kulturpolitik sollte gegen jede Art von pauschalen Maßnahmen gefeit sein. So ist es falsch, russische Künstler und deren Werke grundsätzlich auszuschließen, nur weil sie Russen sind. Was russischen Oppositionellen momentan passiert, kennt man von Juden, die vor dem NS-Regime geflohen waren und im Exil als Deutsche interniert wurden. Aber Deutschland hat seine Lektionen aus der Geschichte offensichtlich doch nicht so gut gelernt.
Wieso?
Es ist richtig, dass sich die deutsche Politik an den konkreten Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg orientiert. Aber eine davon ist doch sicher, dass die traumatischsten Belastungen für die Zivilbevölkerung die Luftangriffe waren, während kriegsentscheidende Kämpfe auf dem Boden stattfanden. Ich habe nicht verstanden, warum der Westen nicht sofort alles dafür getan hat, die Luftabwehr der Ukraine zu stärken und das Land mit allem auszustatten, um sich erfolgreich verteidigen zu können. Das Argument, wegen der deutschen Geschichte keine Waffen liefern zu wollen, mussten die Ukrainer als zynisch wahrnehmen. Doch dem Hass der Ukrainer auf alles Russische, so sehr man ihn verstehen kann, muss man widersprechen. Im Gegenteil, jetzt brauchen wir Foren, in denen ukrainische, russische und europäische Künstler und Intellektuelle sich begegnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten