Lisa Paus zur Kindergrundsicherung: „Das ist ein dicker Brocken“
Seit acht Wochen ist Lisa Paus Familienministerin. Die Grünenpolitikerin verspricht Tempo im Kampf gegen Kinderarmut und hofft auf das Ende von Paragraf 218.
taz: Frau Paus, als Nachfolgerin von Anne Spiegel sind Sie erst Ende April ins Kabinett gekommen. Woran merken Sie, dass Sie die Neue sind?
Lisa Paus: Ich kenne zwar noch nicht alle im Ministerium, aber ich verlaufe mich zumindest hier im Haus nicht mehr. Und in der Kantine kennen sie mich inzwischen. Ich habe meine erste Kabinettsvorlage durchgebracht und hatte meinen ersten Auftritt in der Bundespressekonferenz. Es gibt gerade viele erste Male, und ich habe noch nicht alle hinter mir, aber ich bin hier schon ganz gut im Stoff.
Dass sich Ihre Kabinettskollegen länger warmlaufen konnten, ist für Sie aber von Nachteil – aktuell zum Beispiel bei den Haushaltsverhandlungen?
Dass es insgesamt eine Herausforderung ist, den Haushalt für 2023 aufzustellen, ist kein Geheimnis. Ich war aber schon als stellvertretende Fraktionsvorsitzende für Finanzen zuständig, und Herrn Lindner kannte ich auch schon. Das schadet nicht – es gibt ja einiges zu tun.
53, ist seit Ende April Familienministerin. Die Grünen-Politikerin rückte aus dem Amt der Vizefraktionschefin ins Kabinett, nachdem ihre Vorgängerin Anne Spiegel wegen Fehlern während der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz zurückgetreten war.
Ums Geld geht es unter anderem bei der Einführung der Kindergrundsicherung – einem der größten Projekte, an denen Ihr Ministerium beteiligt ist. Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag und andere Leistungen sollen darin zusammengefasst werden. Profitieren würden vor allem Kinder aus armen Familien. Wie läuft die Arbeit?
Wir haben eine Arbeitsgruppe eingerichtet, an der sieben Ministerien beteiligt sind. Das zeigt schon, wie dick das Brett ist. Wir wollen nach dem Sommer 2023 einen Gesetzentwurf präsentierten. Auf der Fachebene wird mit einem entsprechenden Zeitplan an den offenen Fragen gearbeitet. Damit sich das nicht verläuft, lasse ich mir alle 14 Tage den Stand berichten.
Was sind die größten Brocken?
Da ist einmal die automatisierte Auszahlung. Beim aktuellen Kinderzuschlag ist die Beantragung höchst bürokratisch. Das führt dazu, dass ihn nur 30 Prozent der Berechtigten in Anspruch nehmen und 70 Prozent der Kinder in verdeckter Armut leben. Damit die Kindergrundsicherung tatsächlich ankommt, soll sie automatisch gezahlt und möglichst digital umgesetzt werden. Das ist ein dicker Brocken.
Und die zweite große Baustelle?
Der Plan Im Koalitionsvertrag haben sich SPD, Grüne und FDP auf die Einführung der Kindergrundsicherung geeinigt. Sie soll für jedes Kind gezahlt werden und bisherige Familienleistungen wie Kindergeld, Kinderfreibetrag oder Kinderzuschlag ersetzen.
Das Modell Die Ampel plant mit einem zweistufigen Modell. Einen Garantiebetrag soll es unabhängig vom Einkommen der Eltern für jedes Kind geben. Ein Zusatzbetrag ist, gestaffelt nach dem Einkommen, für Kinder aus armen Familien vorgesehen. Die Höhe der beiden Beträge ist noch offen.
Das Ziel Die Kindergrundsicherung soll für mehr Gerechtigkeit sorgen. Vom bisherigen System profitieren Familien mit hohem Einkommen am stärksten: Sie sparen über den Kinderfreibetrag bei der Einkommensteuer mehr Geld, als wenig und normal Verdienende durch das Kindergeld erhalten. In Zukunft sollen gut Verdienende weniger bekommen und alle anderen mehr. (tsc)
Die Höhe des Garantiebetrags für jedes Kind und den zusätzlichen einkommensabhängigen Betrag zu definieren. Bei Letzterem liegt die Federführung im Sozialministerium, das im Moment auch schon die Höhe des Bürgergelds neu berechnet. Mit Hubertus Heil bin ich dazu im engen Austausch.
Die Ampel hat bei dem Thema einen „Paradigmenwechsel“ angekündigt. Der Sofortzuschlag für arme Kinder, mit dem die Regierung die Zeit bis zum Ende der Reform überbrückt, beträgt aber nur 20 Euro im Monat. Was ist Ihre Untergrenze für die neue Kindergrundsicherung?
Dazu werden Sie heute von mir nichts hören. Ich will dem Prozess nicht vorgreifen.
Ein Konzept der Grünen von 2020 sah 290 Euro als Garantiebetrag vor. Müsste der wegen der Inflation höher sein?
Selbstverständlich muss die Leistung der Lebensrealität gerecht werden. Mit der Kindergrundsicherung wollen wir Kinderarmut bekämpfen, darum geht es doch. Der Betrag ist daher nicht in Stein gemeißelt, sondern steht im Zusammenhang mit dem Existenzminimum und dem Kinderfreibetrag.
Deren Höhe errechnet das Finanzministerium alle zwei Jahre neu.
Im Herbst kommt der nächste Existenzminimumbericht mit den aktuellen Zahlen. Ich gehe davon aus, dass sich die Inflation darin niederschlägt. Insgesamt geht es natürlich auch um die Frage, wie wir dieses Existenzminimum ermitteln: Was bisher einberechnet wird, deckt die wirklichen Bedarfe nicht ab. Hier müssen wir ansetzen und schauen, wie weit wir in der Koalition kommen.
So oder so: Umsonst wird es die Kindergrundsicherung nicht geben. Expert*innen gehen von 20 Milliarden Euro Mehrkosten aus. Könnte das Projekt angesichts der aktuellen Lage am Geld scheitern?
Das ist das zentrale sozialpolitische Projekt dieser Koalition. Darauf haben wir uns untereinander verständigt. Auch der Bundeskanzler hat das gerade noch mal unterstrichen.
Finanzminister Christian Lindner will ab 2023 zurück zur Schuldenbremse und schließt höhere Steuern aus. Woher soll das Geld kommen?
Die Kindergrundsicherung ist komplex. Mein Zeitplan ist ehrgeizig, sieht eine Auszahlung aber frühestens 2025 vor. Aktuell reden wir über den Haushalt 2023. Nach Corona und der Ukraine wäre es vermessen, heute schon darüber zu spekulieren, wie genau der Haushalt 2025 aussehen wird.
An anderen Stellen könnte es deutlich früher einen höheren Finanzbedarf geben, etwa für ein drittes Entlastungspaket, auch für Familien.
Die Belastungen für Familien sind derzeit tatsächlich besonders hoch und werden noch steigen. Viele Haushalte werden die erhöhten Heizkostenrechnungen erst noch bekommen. Ich befürchte, dass es gerade für ärmere Haushalte weitere Entlastungen geben muss.
Womit wir wieder bei Lindner und seinen Grundsätzen wären. Ist die Ampel für Verteilungsfragen schlecht aufgestellt?
Ich bin zuversichtlich, dass diese Koalition das macht, was notwendig ist. Ich finde, bisher haben wir gezeigt, dass wir in der Lage sind, auch in sehr dynamischen Zeiten Lösungen für die Herausforderungen zu schaffen.
Geld benötigen Sie auch für ein weiteres Projekt: Sie wollen Frauen besser vor Gewalt schützen. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass der Bund künftig Frauenhäuser mitfinanziert. Wie ist der Stand?
Es gibt bereits einen runden Tisch mit Ländern und Kommunen. In meiner zweiten Woche im Amt konnte ich an der ersten Sitzung des runden Tisches in dieser Legislatur teilnehmen, im Herbst wird die zweite sein, zu der wir auch die Frauenverbände einladen. Dann wollen wir konkrete Vorschläge vorlegen.
Um welche Summen geht es?
Zahlen kann ich hier noch nicht auf den Tisch legen. Aber der Bundestag berät den Haushalt ab September und beschließt ihn im Dezember. Wenn wir bis dahin ein Konzept haben, können wir die Mittel einplanen.
In der Istanbul-Konvention hat sich Deutschland dazu verpflichtet, ausreichend viele Frauenhausplätze zu schaffen. Vorgaben des Europarats zufolge müssten dafür rund 15.000 neue Plätze geschaffen werden – eine Verdopplung. Passiert das bis zum Ende der Legislaturperiode?
Corona hat den Bedarf jedenfalls nicht gesenkt und noch mal sehr klar gezeigt, dass wir derzeit zu wenige Plätze haben. Wie viele Plätze es am Ende werden, liegt aber nicht alleine in meiner Hand. Zuständig sind zuallererst die Länder. Über die Mitfinanzierung des Bundes werden wir gemeinsam mit den Ländern entscheiden.
Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass Sie die Istanbul-Konvention wirksam umsetzen.
Als Frauenministerin sehe ich es als meine Aufgabe, die Konvention wirksam umzusetzen. Aber die Zahl, die Sie genannt haben, ist in der Konvention nicht klar definiert. Laut der Konvention kommt es darauf an, dass „geeignete, leicht zugängliche Schutzunterkünfte in ausreichender Zahl“ verfügbar sind, und daran werde ich gemeinsam mit den Bundesländern arbeiten.
Nächste Woche beschließt der Bundestag voraussichtlich die Abschaffung des Strafgesetzparagrafen 219a, der Informationen über Schwangerschaftsabbrüche verbietet. Endlich wieder ein gemeinsames Projekt – tut das der Ampel gut?
Es ist ein sehr wichtiges Projekt. Und eines, das der Koalition so wichtig war, dass in der ersten Bundestagsdebatte dazu zwei MinisterInnen gesprochen haben: Herr Buschmann und ich.
In einem Punkt waren Sie sich allerdings uneins mit dem Justizminister: Er will am Paragrafen 218 festhalten, der Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich zur Straftat erklärt. Ihre Position haben wir anders wahrgenommen.
Die ist ja auch unterschiedlich. Aber: Uns beide eint die Koalitionsvereinbarung, worin steht, dass wir eine Kommission einsetzen, die sich um solche Fragen kümmert. Da wird es um das Thema Eizellenspende und Leihmutterschaft gehen, aber eben auch um den Paragrafen 218 und reproduktive Rechte insgesamt. Ich hoffe, dass wir es noch vor der Sommerpause schaffen, die Kommission anzuschieben.
Befürchten Sie nicht, dass der Paragraf 218 in der Kommission nur geparkt wird und am Ende nichts passiert?
Wir haben bei solchen Themen schon oft erlebt, dass es plötzlich eine positive Dynamik gibt. Die Federführung bei diesem Paragrafen liegt ja im Gesundheitsministerium. Es kommt darauf an, die Kommission klug zusammenzusetzen, uns auf ihren genauen Auftrag zu einigen, sie arbeitsfähig zu machen und dann arbeiten zu lassen.
Was heißt klug zusammensetzen?
Menschen zu finden, die kompetent sind und uns gute Vorschläge unterbreiten.
Die Gesellschaftspolitik gilt als Motor der Ampel. Gut scheint der bisher nicht zu funktionieren.
Mein Ressort ist de facto das Gesellschaftsministerium. Ich bin froh über die Ampel, weil wir deutlich mehr bewegen können als in anderen Konstellationen. Mit der Union hätten wir so eine Kommission gar nicht erst zustande gebracht. Insgesamt bin ich froh, dass mir der Koalitionsvertrag ermöglicht, Politik wieder auf Augenhöhe mit der gesellschaftlichen Realität in Deutschland zu bringen.
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