Linkenpolitikerin über Antisemitismus-AG: „Das Thema begleitet linke Strukturen schon lange“
Weil es antisemitische Tendenzen in ihrer Partei gebe, hat die Lüneburger Linke Marianne Esders die AG „Gegen jeden Antisemitismus“ mitgegründet.

taz: Marianne Esders, warum braucht es, warum braucht Die Linke in Niedersachsen eine Landesarbeitsgemeinschaft „Gegen jeden Antisemitismus“?
Marianne Esders: Einerseits gibt es einen Anstieg an antisemitischen Vorfällen und antisemitischer Diskriminierung sowohl in Niedersachsen als auch in ganz Deutschland. Aber wir sehen natürlich: Auch innerhalb der Partei Die Linke gibt es antisemitische Tendenzen. Nach dem Beschluss zur Jerusalem-Erklärung beim Chemnitzer Parteitag …
taz: … der Bundesparteitag beschloss dort im Mai unter anderem, sich der „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ anzuschließen, womit zugleich die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Association (IHRA) abgelehnt wurde.
Esders: Ich denke, in allen Bundesländern bestand nach dem Beschluss, sich auf die Jerusalemer Erklärung festzulegen, bei vielen Mitgliedern das Bedürfnis, dem etwas entgegenzusetzen. Zu dem Zeitpunkt waren bereits einige Mitglieder wegen unzureichender Abgrenzung zu antisemitischen Inhalten aus der Partei ausgetreten, etwa in Berlin der Ex-Kultursenator Klaus Lederer.
taz: IHRA-Anhänger*innen bemängeln an der Jerusalemer Erklärung, dass sie das Spezifische des Antisemitismus nicht ausreichend anerkenne, und eine Verharmlosung des gegen Israel gerichteten Antisemitismus.
Esders: Aus meiner Sicht steht es einer Partei nicht zu, sich ohne Rücksprache mit Betroffenen-Gruppen per Mehrheitsbeschluss auf eine Definition einer Diskriminierungsform festzulegen, die Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen ist. Unsere Partei sollte sich mit den Kritikpunkten beider Definitionen auseinandersetzen. Antisemitismus lässt sich nicht per Beschluss wegdefinieren. Ich halte es aber auch nicht für den richtigen Weg, aus der Partei auszutreten. Einige Genoss*innen würden die Partei an diesem Punkt gerne verbessern und ein Angebot für all die Mitglieder schaffen, die sich selbstkritisch mit Antisemitismus auseinandersetzen möchten! Und deswegen sind solche Landesarbeitsgemeinschaften in Gründung, hier in Niedersachsen die „Gegen jeden Antisemitismus“, in anderen Bundesländern nennen sie sich „Shalom“. In Sachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen gibt es sie. In Berlin und Brandenburg werden sie gegründet.
taz: Ihre Aktivitäten richten sich aber wesentlich nach innen?
Esders: Wir richten uns nach innen – aber nicht nur. Die Partei hat ja auch massive Kritik von außen erfahren, besonders nach dem letzten Bundesparteitag. Der Chemnitzer Beschluss hat den Bündnissen der Linken mit jüdischen Einrichtungen massiv geschadet. Wir hören diese Stimmen – und versuchen darauf einzugehen.
taz: Dass es linken Antisemitismus gibt, Antisemitismus in der Linken, das war nicht immer überhaupt konsensfähig, oder?
Esders: Laut Erfurter Programm ist das Existenzrecht Israels Grundkonsens der Partei Die Linke. Dennoch begleitet das Thema Antisemitismus linke Strukturen schon lange. Es gibt autoritäre Gruppen, die in der politischen Linken wirken – und die sich mittlerweile ganz offen antisemitisch äußern. Natürlich sehen diese Gruppen sich nicht unbedingt als antisemitisch, sondern bezeichnen sich als antizionistisch. Aus unserer Perspektive handelt es sich hier um Antisemitismus unter dem Deckmantel eines vorgeschobenen Antizionismus. Vor allem innerhalb der Postkolonialismus-Debatte kommt es zu vereinfachten antiimperialistischen und antikapitalistischen Narrativen, die Israel eine verzerrte koloniale Expansionspolitik vorwerfen.
taz: Können Sie nachvollziehen, wie es dazu kommt?
Esders: Ich glaube, es gibt gerade vor allem junge Leute, die einfach riesiges Mitleid haben, auch mit den Geschehnissen, die in Gaza passieren; die ein Bedürfnis haben, auf die Straße zu gehen, die sich aber auch schnell vereinnahmen lassen. Ich glaube nicht, dass unter den neuen und auch oft noch jungen Mitgliedern der Partei das historische Wissen darüber vorhanden ist, was vor Jahrzehnten schon einmal innerhalb der politischen Linken an autoritären und antisemitischen Strukturen vorhanden war und jetzt nach dem 7. Oktober 2023 wieder aufkommt.
taz: Die „Bekämpfung von Antisemitismus und Antizionismus“ ist Teil des formulierten Selbstverständnisses Ihrer LAG. Dass beides noch da steht, ist auffällig, weil das eine so oft mit dem anderen eins zu sein scheint. Gibt es in Ihren Augen überhaupt so etwas wie einen legitimen Antizionismus? Der eben nicht bloß ein Deckmantel für Antisemitismus ist?
Esders: Das ist ein komplexes Thema. Aber ich denke, dass es inner- wie außerhalb Israels zum Beispiel auch Jüdinnen und Juden gibt, die den Zionismus nicht unterstützen – dabei aber nicht antisemitisch argumentieren. Ich glaube, man kann solch eine Differenzierung vornehmen.
taz: Aber das passiert nicht?
Esders: Was wir jetzt beobachten, differenziert nicht in diesem Sinne. Also, um die Frage konkret zu beantworten: Ich denke, so etwas gibt es. Es ist möglich und legitim, Kritik an der israelischen Regierung zu äußern, das machen wir auch. Wir haben durchaus ein Problem mit Netanjahu und der rechts orientierten Regierung in Israel und der humanitären Situation in Gaza.
44, ist Vorsitzende der Gruppe Die Partei/Die Linke im Lüneburger Stadtrat. Von 2023 bis 2025 gewähltes Mitglied des Landesvorstandes Die Linke Niedersachsen. Sie ist Ko-Sprecherin des Landesrates Linke Frauen und Mitgründerin des Koordinierungskreises (i.A.) der Landesarbeitsgemeinschaft Gegen jeden Antisemitismus
taz: Wie umzugehen ist mit dem Begriff oder auch dem Konzept „Antizionismus“, das steht und fällt doch immer auch damit, wie „Zionismus“ definiert ist. Und da gibt es natürlich schon zu beobachten: eine strategische Indienstnahme des Begriffs.
Esders: Sobald das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird, wird die Sache aus unserer Sicht problematisch. Zionismus bezieht sich primär auf die Existenz eines jüdischen Staates als Schutzraum, der sich auch durch den Holocaust begründet. Wenn der Zionismus von links angegriffen wird, dann oft weil er verallgemeinernd als Kolonisierung gedeutet wird. Die Menschenrechtsverletzungen im Westjordanland und Gaza zu kritisieren, ist legitim. Eine solche berechtigte Kritik stellt auch das Existenzrecht Israels nicht in Frage.
taz: Verallgemeinerung und die Weigerung, Nuancen zur Kenntnis zu nehmen: Das prägt diese Debatten auf jeder Ebene.
Esders: Unsere Landesarbeitsgemeinschaft sagt auch, wir müssen differenzieren, welchen Stimmen wir ein Podium geben, mit wem wir etwa auf Protestkundgebungen zusammen laufen. Es gibt ja auch Stimmen, die sich in Gaza gegen die Hamas aussprechen, die gegen die Hamas demonstrieren gehen und dafür ihr Leben lassen. Es gibt Aktivisten wie Hamza Howidy, die sich gegen die Hamas wenden und nach Deutschland geflüchtet sind, die einfach sagen: Wir brauchen eure Unterstützung. Wir sind diejenigen, die nicht die islamistischen Gruppen unterstützen, sondern Frieden und eine Form von Demokratie in Palästina wollen. Diese Stimmen werden aktuell nicht ausreichend gehört. Da ist aber der Punkt, wo Die Linke sagen müsste: Das sind die Stimmen, die wir unterstützen und verstärken wollen; bei diesen Stimmen liegt der Widerstand.
taz: Können Sie etwas dazu sagen, wie Ihre Fraktion, in Anführungszeichen, innerhalb des Landesverbandes dasteht?
Esders: In der aktiven Auseinandersetzung zum Antisemitismus in unserer Partei sind wir aktuell in einer Minderheitenposition, zumindest was unseren Organisationsgrad angeht. Hinzu kommt, dass auch in Niedersachsen die Mitgliederzahlen im Zuge der Bundestagswahl erfreulicherweise explodiert sind. Wir haben massiv neue Mitglieder dazugewonnen. Und ich habe natürlich keine Übersicht, wie die Einstellung der einzelnen Mitglieder ist zu dieser Frage. Viele Mitglieder bleiben im Hintergrund und äußern sich nicht – ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Menschen alle Antizionisten und Antisemiten sind.
taz: Aber?
Esders: Gleichzeitig gibt es laute Stimmen, die gerade antisemitische Tendenzen nach vorne treiben und denen wir etwas entgegensetzen möchten. Sagen wir es mal so: Wir sind noch ein eher kleiner Teil, aber wir hoffen, dass sich das ändern wird.
taz: Lässt sich das beziffern? Wie viele Leute machen denn derzeit mit bei der LAG?
Esders: In der Landesarbeitsgemeinschaft in Niedersachsen sind wir mit etwa 30 Interessensbekundungen gestartet. Das waren für uns genug Genoss*innen, um zu sagen, wir wagen eine Landesarbeitsgemeinschaft. Wir haben aber gerade erst losgelegt. Gegründet haben wir uns vor etwa drei Wochen. Jetzt müssen wir noch in der Partei kommunizieren, dass es uns gibt und unsere Anliegen einbringen.
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