Linken-Politiker über Wahlrechtsreform: „Schaden für die Demokratie“
Am Donnerstag wollen Union und SPD ihre Wahlrechtsreform beschließen. Der Linke Friedrich Straetmanns kritisiert das Gesetz – und will klagen.
taz: Herr Straetmanns, nach sieben Jahren Streit wird die Große Koalition an diesem Donnerstag voraussichtlich ihre geplante Wahlrechtsreform beschließen. Eine Reform, die für viele diesen Namen kaum verdient. Wie blicken Sie der Abstimmung entgegen?
Friedrich Straetmanns: Mit einem gewissen Groll und Ärger. Eigentlich war ich 2017 mit dem Gefühl in den Bundestag eingezogen, dass hier vernünftig miteinander umgegangen wird. Beim Thema Wahlrechtsreform muss ich sagen: Das Gefühl hat komplett getrogen. Eisenhart wird hier der Vorteil von bestimmten Parteien gesucht, CDU und CSU muss ich hier insbesondere nennen. Ich habe viel Zeit, Mühe und Arbeit in das Thema investiert und ich finde es schlecht, wie es jetzt behandelt wird.
Anfang der Woche gab es eine Expertenanhörung im Innenausschuss, Jurist*innen, Politikwissenschaftler*innen und Mathematiker*innen darunter. Das fast einhellige Fazit zum Groko-Modell: am Ziel vorbei, zu kompliziert, verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Hat es Sie überrascht, dass die Sachverständigen den Entwurf derart zerpflücken?
Es hat mich in der Tat überrascht, weil selbst der von der SPD benannte Sachverständige ja an dem Entwurf kein gutes Haar gelassen hat. Der Einzige, der ihn verteidigt hat, war der Sachverständige der CDU/CSU − mit sehr schlechten juristischen Argumenten.
Hauptziel der Reform ist ja, ein weiteres Aufblähen des Bundestags zu verhindern. Doch selbst die Expert*innen sagen nun, dass das Modell von Union und SPD die Zahl der Sitze kaum verringern, eher noch erhöhen wird. Was stört Sie am meisten?
Was ja ins Auge springt: Die beabsichtigte Regelung, drei Überhangmandate nicht auszugleichen, ist eine einseitige Bevorzugung von CDU und CSU. Üblicherweise war es bisher so, dass auf das gesamte Bundesgebiet für diese drei Überhangmandate Ausgleichsmandate angefallen wären, um bundesweit eine Stimmengleichwertigkeit herbeizuführen. Mit der Reform findet dieser Ausgleich in Bezug auf die drei Überhangmandate aber nicht mehr statt. Überhangmandate in besonderer Stärke …
… wie sie vor allem für die CDU in Baden-Württemberg und die CSU in Bayern anfallen …
59, sitzt seit 2017 für die Linke im Bundestag und ist Justiziar seiner Fraktion.
… werden nicht mehr ausgeglichen. Die Stimmen dort würden viel mehr wert sein als die Stimmen in den restlichen Bundesländern.
Der Entwurf sieht zudem die Einsetzung einer Kommission vor, die bis zur übernächsten regulären Wahl im Jahr 2025 Empfehlungen für eine tiefergehende Reform, auch hinsichtlich einer Absenkung des Wahlalters, ausarbeiten soll. Was halten Sie davon?
Das ist die politische Mogelpackung. Das ist eigentlich ein Verstoß gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb: große Packung, nichts drin. Eine Kommission hatten wir schon, und diese kann auch rechtlich gar nicht verbindlich ein neues Wahlrecht schaffen. Und so ist auch die Formulierung im Gesetz: Da steht nur soll − also möglichst, und nicht verbindlich. Das heißt, es wird dem Publikum eine Aktivität vorgaukelt, die zielführend sein soll, die aber gar nicht zielführend ist. Und das ärgert mich, das ist ein Schaden für die parlamentarische Demokratie.
Zumal das Bundesverfassungsgericht 2013 einen möglichst breiten demokratischen Konsens bei einer Wahlrechtsänderung angemahnt hatte.
Das ist das, was mich auch so fürchterlich getroffen und geärgert hat. Wahlrecht darf nicht von zufälligen Mehrheiten im Bundestag abhängen, darum muss es auf eine breite Basis gestellt werden. Sonst haben wir nämlich ein Wahlrecht nach Gutsherrenart, und jede Mehrheit ändert gerade mal das Wahlrecht so, wie es ihr zupass kommt. Die Absicht eines Konsenses ist, dass alle Interessen berücksichtigt werden. Das vorliegende Reformpaket berücksichtigt einseitig die Interessen von CDU und CSU.
Ihrem gemeinsam mit Grünen und FDP viel weitergehenden Reformvorschlag gegenüber haben sich sowohl Union als auch SPD gesperrt. Sollte der Entwurf der Großen Koalition so durchgehen: Werden Sie mit den anderen beiden Oppositionsfraktionen in Karlsruhe klagen?
Diese Frage ist noch offen. Ich persönlich habe nie einen Hehl daraus gemacht, wie meine Sicht dazu ist: Ich würde lieber heute als morgen nach Karlsruhe gehen. Aber da bin auch im Wort gegenüber Grünen und FDP, dass wir das sorgfältig miteinander besprechen und die Erfolgsaussichten abwägen. Es gibt immerhin noch eine Möglichkeit, ohne Grüne und FDP zu klagen, indem meine Partei das als betroffenes Organ selbst tut − auch darüber werden wir intern rechtlich befinden müssen.
Leser*innenkommentare
05838 (Profil gelöscht)
Gast
Was bei diesem Thema fehlt, ist die Erklärung des Problems. In den Medien wurd so getan, als ginge es um parteipolitische Spielchen.
Stephan Herrmann
@05838 (Profil gelöscht) Was ist daran unklar?
CDU/CSU haben kein Interesse daran, sich dem Verhältnis der abgegebenen Stimmen zu beugen, wenn sie von Zweitstimmen überverhältnismäßig profitieren können. Die aktuelle Regierungsmacht zu nutzen, um sich für die nächsten Wahlen einen Vorteil zu verschaffen, dafür ist "parteipolitische Spielchen" noch viel zu harmlos formuliert.
Wie teuer eine Demokratie ein schlechtes Wahlrecht zu stehen bekommt, kriegen wir ja regelmäßig von den USA vorgeführt.
05838 (Profil gelöscht)
Gast
@Stephan Herrmann Ihnen ist das Problem nicht bewusst.Sie argunentieren parteipolitisch.
Stephan Herrmann
@05838 (Profil gelöscht) Na, dann lassen Sie mal die Katze aus dem Sack: was ist denn das Problem?
05838 (Profil gelöscht)
Gast
@Stephan Herrmann Das Problem ist, dass man Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht nicht kombinieren und gleichzeitig mit der Vorgabe einer fixen Abgeordnetenanzahl mathematisch in Einklang bringen kann.
Wenn eine Partei wie die Union im Extremfall alle Direktmandate gewinnen würde, aber nur 35% der Zweitstimmen erhielte, dann müsste sie 30% ihrer gewonnen Direktmandate posthum wieder abgeben. Das zu verstehen, ist Mathematik 7. Klasse.
Über die Besetzung der Direktmandate entscheidet der Bürger direkt demokratisch, über das Ranking der Listenplätze überwiegend die Parteizentralen order per mufti.
Der Wähler entscheidet bei den Listenplätzen nur, ob im Einzelfall nicht nur Abgeordnete bis Listenplatz 65 ins Parlament kommen oder auch Platz 66-75.
Das eine ist Demokratie, das andere Räterepublik.
Stephan Herrmann
@05838 (Profil gelöscht) "Das Problem ist, dass man ... nicht mit ... in Einklang bringen KANN."
Zu beweisen, dass eine Lösung unmöglich ist, ist bekanntlich einer der schwierigeren Übungen.
Wir könnten jetzt lange herum rechnen, mit welchen Parametern die Rechnung am Ende doch aufginge, mathematisch gesehen.
Aber höre ich heraus, dass es ihnen um die grundsätzliche Frage geht, ob Politik von Parteien oder Personen ausgeübt werden sollte. Das Grundgesetz erwähnt Parteien, lässt aber erstaunlich viel Spielraum, welche Rolle sie genau in der Demokratie spielen.
Da gibt es also viele interessante Fragen zu diskutieren (dann aber auch: Wie verschafft man einer überregionalen Minderheit Gehör? Wer ist die Partei?), aber ich glaube nicht, dass viele Leute die Frage Partei oder Person aktuell als "das Problem" einstufen.