Liebe ist kälter als der Tod

Ökonomisch sein, Kontrolle behalten, Sprache verknappen: Sämtliche Stücke von Sarah Kane sind in einem Band erschienen. Am Ende geht’s darum, Vergebung zu erlangen

Sarah Kane lesen und still sitzen, das geht nicht. Sätze, die selten die Länge einer Zeile erreichen, jagen einen vom Sessel hoch. Anfangs sind es Regieanweisungen, die wie ein Fallbeil den Strom der inneren Bilder durchschlagen: „Er stülpt seinen Mund über eines von IANS Augen, saugt es heraus, beißt es ab und isst es“ (aus: „Zerbombt“). In den späteren Stücken („Gier“, „4.48 Psychose“) gibt es keine Rollen und keine Regieanweisungen mehr. Mit orchestraler Gewalt drängt die Sprache und will geschrieen werden: „blitzen flackern schlitzen brennen wringen zerquetschen tupfen schlitzen blitzen flackern …“ Sechs Strophen lang rollen die aneinander geketteten Verben des Schmerzes und des Eingriffs auf den Leser zu wie Meereswellen. Wenn sie verebben, bleiben halbe Zeilen liegen: „Opfer. Täter. Zuschauer.“ oder „und ein gesünderes Leben morgen“. Kurz ist dieses Auftauchen aus dem Strudel, aber jedes Mal hat sich die Perspektive verändert.

Kontrolle der Gefühle, Haushalten mit den Emotionen: Die männlichen Figuren, die sich die englische Dramatikerin in „Zerbombt“, „Phaidras Liebe“ und „Gesäubert“ erfand, fürchten nichts so sehr wie den Kontrollverlust und die Verwicklung in Gefühle, die sich nicht auf die Eindeutigkeit einer Kaufhandlung reduzieren lassen. Sie denken, sie könnten sich die Lügen der Liebe mit der Wahrheit des Sex vom Leibe halten. Das macht sie so brutal, dass Sarah Kane mit knapp dreiundzwanzig sogar glaubte, mit dieser Abwehr der Gefühle den Krieg erklären zu können. In „Zerbombt“ (Uraufführung 1995) geht eine Vergewaltigung im englischen Leeds nahtlos in Kriegsszenen aus dem Kosovo über. Später nahm die Autorin von dieser politischen Kontextualisierung Abstand und versuchte nicht mehr, dem Elend der Depression durch Spiegelung in der Geschichte so etwas wie Sinn zu unterschieben.

Ökonomisch sein und die Kontrolle behalten: Die Texte selbst torpedieren diese Haltung auf dem schnellst möglichen Weg. Alles, was Kane an Brutalität, Rassismus und Pornografie aufbringt, zielt darauf, den Panzer so schnell wie möglich zu durchbrechen und im Schmerz Nähe zu erzeugen. Verletzend ist die Knappheit der Sprache: Wie Geschosse durchschlagen die Wörter jeden Wunsch nach Schutz. Sie kennen keine anderen Rollen als Opfer, Täter, Zuschauer.

Das ändert sich erst in „Gier“ und „4.48 Psychose“, dem erst posthum veröffentlichten Text, der von Sarah Kane vor ihrem Tod noch durchgesehen wurde und von Durs Grünbein ins Deutsche übersetzt ist. Nur noch Spiegelstriche stehen vor den Absätzen. Der Schauplatz ist ganz in das Innere verlegt – vielleicht sogar mehr in das Innere der Sprache selbst als in das einer Figur. Von Erzählung bleibt nicht viel; aber in der Musikalität der Sprache und der Poesie der Bilder sind diese Texte zugänglicher als die Stücke zuvor. Wieder zeigt sich Kane als Meisterin der Kurzstrecke, aber diesmal nicht allein des Schocks, sondern im Wechsel der Vorstellungsebenen und des sprachlichen Duktus.

Manche Passagen beginnen wie ein tägliches Motivationstraining des Realitätstüchtigen – „ein Ziel erreichen und Ehrgeiz entwickeln“ – und enden fast als Gebet: „Vergebung erlangen / geliebt werden / frei sein.“ „4.48 Psychose“ berichtet von einer Depression und von der Angst, durch Therapie den produktiven Grund, die Wut zu verlieren. „Nichts löscht sie aus, meine Wut. Und nichts gibt mir den Glauben zurück.“ Hellsichtig steckt in diesen Zeilen die Ahnung, dass die Wut sich vielleicht ebenso sehr als Produktivkraft domestizieren und ausbeuten ließ wie der Glaube zuvor. Das ist für jemand, die als „Nihilistin“ Karriere gemacht hat, nicht gerade eine aufbauende Entdeckung.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Sarah Kane: Sämtliche Stücke. Rowohlt, Reinbek 2002, 252 Seiten, 13 €