Library Music von Morricone und Nicolai: Mit jedem Ton in neue Gefilde
„Dimensioni sonore“, Meisterwerk der Filmmusik von Ennio Morricone und Bruno Nicolai, wird wieder veröffentlicht – beste Library-Musik.
Nach seinem Tod am 6. Juli 2020 wurde Ennio Morricone in zahlreichen Nachrufen ob seiner Musik für Spaghetti-Western gehuldigt, obwohl diese Soundtracks nur ein Bruchteil seines filmmusikalischen Œuvres ausmachen. Morricones Palette war wesentlich breiter, es gibt kaum einen Stil vom Barock bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, den der Maestro nicht perfekt beherrscht oder grandios adaptiert hätte: Klassik, Schlager, Jazz, Neue Musik, Beat, Bossa nova und Samba, elektronische Musik, psychedelische Rockmusik, Folk, freie Improvisation, Disco – durch zahlreiche Wiederveröffentlichungen wurde Morricones breites musikalisches Spektrum zuletzt endlich ins rechte Licht gerückt.
Auch die Werke seiner Improvisationsgruppe Nuova Consonanza, in der sich Morricone mit avantgardistischer Gesinnung der Experimentalmusik widmete, sind inzwischen wieder erhältlich. Was noch fehlte, war die spezifische Form von ausgedehnter Klangforschung und Abstraktion, die Morricone in manchen Soundtracks der frühen 1970er Jahre schon angedeutet, aber erst in seinen Library-Produktionen vollendet hat.
Unter dem Titel „Dimensioni sonore. Musiche per l’immagine e l’immaginazione“ veröffentlichte die Plattenfirma RCA Italiana im Oktober 1972 eine zehnteilige LP-Anthologie, je fünf Alben mit Musik von Ennio Morricone und Bruno Nicolai – beide Komponisten zeichneten für die hier versammelten 103 Stücke verantwortlich. Dazu später mehr.
Library-Produktionen wie „Dimensioni sonore“ sind tatsächlich nie im klassischen Sinne „erschienen“ – das tun sie erst jetzt in Form der Wieder- bzw. Erstveröffentlichung auf dem Tonträgermarkt. Denn die bis heute existente Sparte der Library- oder Produktionsmusik bezeichnet Musikaufnahmen, die nicht kommerziell erhältlich sind, stattdessen nur in der Medienbranche als Gebrauchsmusik zirkulieren.
Library-Musik wird quasi vorab auf Halde produziert und imaginiert dabei Situationen in Spielfilmen, Dokumentarfilmen, Reportagen, Sportsendungen, Games oder in der Werbung, die sie musikalisch illustriert. Heute fast ausschließlich digital vertrieben, existierte Library-Musik in ihrer Hochphase von Mitte der 1960er bis Ende der 1980er Jahre in Form von Vinyl-Platten, die nicht selten einer Thematik („Suspense“, „Romance & Drama“, aber auch „Forest 0f Evil“, „Musica e Ambiente“ oder „Societa Malata“) folgten und deshalb auch als Vorläufer sogenannter Konzeptalben in der Popmusik betrachtet werden können.
Andere Library-Alben boten von allem etwas, wobei die kompilierten Tracks mit benutzerfreundlichen Hinweisen zu Instrumentierung, Tempo und möglichem Verwendungszweck (etwa „für Stadtpanoramen und Autobahnen geeignet“) versehen waren. Library-Musik war immer eine musikalische Spielwiese mit selbst erfundenen Genres, abenteuerlichen Klangexperimenten, irren Soundeffekten; sie war ein Testfeld für neue Instrumente (etwa Rhythmusmaschinen und Synthesizer).
Musik als Experimentierfeld
Interessanterweise hat sich neben der französischen vor allem die italienische Library-Musik der späten 1960er und frühen 1970er Jahre am weitesten vom funktionalistischen Korsett entfernt und diese Musiksparte dezidiert als Experimentierfeld wenn nicht als Paralleluniversum für seriöse Albenveröffentlichungen begriffen.
Dies gilt insbesondere für die Musik von Morricones römischen Komponistenkollegen Piero Umiliani, Egisto Macchi, Alessandro Alessandroni und eben Bruno Nicolai. Seit ihrem gemeinsamen Studium am Konservatorium Santa Cecilia in Rom und später in den Funktionen als Arrangeur und Sessionmusiker bei RCA Italiana waren Morricone und Nicolai als Kollegen freundschaftlich verbunden. Ein symbiotisches Verhältnis entwickelte sich ab 1966, als Nicolai bei Morricones Filmmusik für „The Good, the Bad & the Ugly“ arbeitsteilig das Orchester dirigierte – was er fortan, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis 1974 fortsetzte.
Auch an der geteilten Autorenschaft bei allen Titeln ersichtlich, lässt sich die Musik auf „Dimensioni sonore“ als Höhepunkt ihrer Kollaboration betrachten – mit der das Gespann Morricone/Nicolai außerdem die Gepflogenheiten der Library-Sparte komplett negierte: Alle zehn Alben heißen gleich, es gibt keine benutzerfreundlichen Hinweise zur Musik sowie maximal nüchterne Track-Titel (zum Beispiel „Frequenza“, „Dinamico“ oder „Inversione“). So können sich ZuhörerInnen in die ebenso expansive wie hermetische Klangwelt versenken und dabei eigene Bilder und Vorstellungen entstehen lassen.
Empfohlener externer Inhalt
Morricone „Antitesi“
Immersives Rezeptionsmodell
Dieses immersive Rezeptionsmodell zielt eindeutig auf „Deep Listening“ und weniger auf mediale Verwendungszwecke. Dementsprechend spekuliert der Musikologe Maurizio Corbella im Booklet zur aktuellen Wiederveröffentlichung, dass die Plattenfirma RCA wohl erwogen habe, die zehn LPs als reguläre Alben zu veröffentlichen, wofür auch die Ausstattung mit Liner Notes von Sergio Leone, Pier Paolo Pasolini und Elio Petri spräche. Vermutlich aus vertraglichen Gründen habe man diesen Plan aber wieder aufgegeben.
„Dimensioni sonore. Musiche per l’immagine e l’immaginazione“ (Soundohm/Kudos)
Die 103 Stücke der „Dimenioni sonore“ kombinieren das Instrumentarium von klassischer Musik und Rock mit damals neuen Instrumenten wie dem Synket-Synthesizer mit einer Selbstverständlichkeit, die ihresgleichen sucht. Auffällig ist eine ebenso streng kammermusikalische wie luftig improvisatorische Anmutung der Musik – so, als taste man sich sehr bewusst mit jedem Ton in neue Gefilde vor.
Dabei gehorcht sie einer strikt antiexpressiven Ästhetik, setzt stark auf Texturen und lotet das Spektrum von Klangfarbenmalerei voll aus. Das rückt sie in ruhigen Momenten in die Nähe von Ambient, wovon ihr rhythmischer Dynamismus und ihre harmonische Komplexität (tonal, atonal, modal, polytonal) sie wieder abrückt. Eine Atmosphäre von Spannung und Erwartung durchzieht alle Tracks.
Baustein melodische Percussion
Es gibt diverse Bausteine im Gesamtsound: melodische Percussion wie Marimba und Vibraphon; atonale Streicherpassagen; an elektronische Musik erinnernde Frequenzen des Cembalos; Giallo-Jazz- und Jazz-Funk-Rhythmen; die abgehackten Gitarrenlicks und Fuzzeffekt-Orgien des Gitarristen Bruno Battisti D’Amario; der fräsende Sound des Synket-Synthesizers (gespielt von Walter Branchi) und die betont unfunky gespielten Rhythmus-Studien von Enzo Restuccia (ansonsten ein funky Drummer vor dem Herrn!).
Tracks klingen wie alternative Versionen oder Variationen anderer Stücke. So entsteht der Eindruck eines kaleidoskopisch aufgefächerten Musikmaterials, das jeweils aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlicher Akzentuierung interpretiert wird. Grund dafür ist das von Ennio Morricone Ende der 1960er Jahre entwickelte Prinzip der multiplen bzw. modularen Komposition.
In Grundzügen hatte Morricone diese Methode schon in seinen ersten drei Giallo-Soundtracks für den Regisseur Dario Argento angewendet, nicht zuletzt, um sich selbst beim Komponieren noch zu überraschen. In der gemeinsam mit Alessandro de Rosa verfassten Autobiografie „In His Own Words“ sagt Morricone dazu: „Die multiplen bzw. modularen Filmmusiken ermöglichten es mir, mich für das Unvorhersehbare, für die Improvisation zu öffnen. Dennoch ist es organisierte Improvisation. Jede einzelne Note ist niedergeschrieben, aber die Kombinationsmöglichkeiten sind zahlreich. Es ist ein Konzept mit unzähligen Facetten.“
„Die Arbeiterklasse fährt ins Paradies“
Bei vielen Morricone-Soundtracks der frühen 1970er Jahre findet sich dieses modulare Prinzip, erweitert durch den Einsatz von Effektgeräten, Tonbändern und dem Synket – zum Beispiel in Damiano Damianis Gefängnisfilm „Das Verfahren ist eingestellt – Vergessens Sie’s!“ (1971), Elio Petris „Die Arbeiterklasse fährt ins Paradies“ (1971) und „Das Attentat“ (1972) von Yves Boisset. Von Morricone entwickelt und in der Praxis von Nicolai als Dirigent ausgeführt, scheint sich auch Nicolai dieser Methode bei eigenen Kompositionen bedient zu haben, mutmaßt Maurizio Corbella im Booklet zu „Dimensioni sonore“.
Das hier vorherrschende modulare Prinzip wird kongenial erweitert durch den Einsatz des 16-spurigen Mischpults als kompositorisches Werkzeug, etwa bei Stücken wie „Proporzionale“ oder „Studio“. Auf diese Weise schufen Morricone und Nicolai eine abstrakte Klangfarben-Musik, die aus verschiedenen Schichten zusammengesetzt ist und in der einzelne Passagen oder Instrumente je nach Bedarf ein- oder ausgeblendet werden.
Für Alessandro de Rosa kommt Morricone hier eine bedeutende Vorreiterrolle zu: „Das ist wirklich interessant, denn heute wird Musik für Videospiele auf diese Art und Weise mit Schichten komponiert. Es ist ziemlich futuristisch, dass Morricone hier schon eine aktuelle Kompositionsmethode vorwegnimmt.“ Aber das wäre noch nicht alles. Die Idee, dass aufgenommene Musik aus Variablen besteht, die via Mischpult endlos unterschiedlich akzentuiert und miteinander kombiniert werden können, reifte nur sehr kurze Zeit später in Jamaika zu einer Sound-Ästhetik heran, die in Formvollendung als Dub um die Welt gehen sollte.
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