Leseförderung an Schulen: 15 Minuten Lesezeit
Das „Leseband“ hält Schüler*innen dazu an, regelmäßig eine Viertelstunde zu lesen. Auch am Ende ihrer Schulzeit haben einige damit Probleme.

Leart liest es im sogenannten „Leseband“, einem Zeitkorridor: 15 Minuten lesen, von Montag bis Donnerstag, immer von 11 bis 11.15 Uhr, nach der ersten großen Pause – verpflichtend für alle Klassen. Die Schule hatte das Leseband zum Schulstart nach den Sommerferien eingeführt und nun ein Schuljahr damit Erfahrung gemacht. Für Leart war es eine gute Sache. Es habe ihm beim BBR geholfen – also bei der Berufsbildungsreife. „Ohne Leseband hätte ich in meinem Abschluss vielleicht mehr Schwierigkeiten dabei, Lesetexte zu verstehen“, sagt er.
Der Schulleiter, Thomas Auge, erzählt, dass ein Podcast ihn und Claudia Loewe, die Fachleiterin für Deutsch, auf die Idee gebracht habe, das Leseband auch an seiner Schule einzuführen. „Wir hatten sowieso unsere Pausen- und Unterrichtszeiten umgestellt, weil wir auf 60-Minuten-Stunden umgestellt haben.“ Da passte das Leseband dann gut rein.
„Und es zeigt sich: Wir haben sehr gute Ergebnisse“, sagt Auge. „Vor allem die Schüler*innen, die anfangs Schwierigkeiten mit dem Lesefluss hatten, haben sich verbessert. Einige haben richtige Sprünge gemacht“, sagt er. Das habe ihnen der Vergleich eines Lesescreenings direkt nach den Ferien mit einem Zwischentest im zweiten Halbjahr gezeigt. Wikipedia-Artikel oder Zeitungsartikel zum politischen Weltgeschehen – die würden die schwachen Leser*innen selbst in der 10. Klasse nicht ohne Hilfestellung verstehen, sagt der Schulleiter.
Auf alle Schulen ausweiten
Bisher hat Berlin das Leseband verpflichtend an den Schulen eingeführt, die am Startchancen-Programm teilnehmen. Perspektivisch soll es auf alle Schulen ausgeweitet werden, an den Startchancen-Schulen soll dann neben dem Leseband auch ein tägliches „Matheband“ verpflichtend sein. Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) möchte damit die Grundkompetenzen stärken. Deutsch, Mathe und Englisch hat sie mehrfach zu ihrem bildungspolitischen Schwerpunkt erklärt.
Im Klassenraum der 7.2 an der Julius-Leber-Schule beugen sich rund 16 Schüler*innen über ihre Reader, alle haben denselben Text aufgeschlagen. Sie lesen in Zweierteams. In der ersten Reihe etwa liest ein Junge in mittlerer Lautstärke den Text vor, mit dem Finger folgt er den Buchstabenreihen. Seine Nachbarin guckt konzentriert auf ihren Text und murmelt mit den Lippen leise mit. Als der Junge ins Stocken gerät, spricht sie kurz das Wort vor: „Protestiert“, hilft sie, der Junge wiederholt den Satz und liest weiter.
Einige Kinder haben eine Art Lineal mit gelbem Sichtfenster in der Mitte, das sie über den aktuellen Satz legen: Ein sogenannter „Lesestreifen“, der ihnen helfen soll, in der Zeile zu bleiben. Andere nutzen einen Stift oder ein Geodreieck oder eben den Finger. Wenn das eine Kind am Ende angelangt ist, wechseln sie die Rollen. Zum Schluss werden sie den Text noch einmal zusammen lesen. Die Lehrerin weist auf einen Schüler in der letzten Reihe hin. „Er spricht noch nicht gut Deutsch“, sagt sie. „Mit dem Lesen übt er auch die Sprache.“
Das „Lesetandem“ ist eine Methode, die vor allem den Lesefluss fördern soll, erklärt Schulleiter Auge. Sie wenden sie daher in der 7. und 8. Jahrgangsstufe an. „In der Sprachförderung haben sich Schulen lange darauf fokussiert, das Leseverständnis zu verbessern“, sagt er. „Doch der Lesefluss ist dem vorangestellt. Die Forschung sagt, dass es für das Verständnis eine gewisse Grundgeschwindigkeit im Lesen braucht“, erklärt Auge. Doch gerade den Lesefluss, den würden die Schüler*innen aus der Grundschule noch nicht ausreichend mitbringen.
Die Julius-Leber-Schule ist eine integrierte Sekundarschule ohne gymnasiale Oberstufe. An der Schule gibt es auch kleinere Förderklassen, in denen Kinder mit Förderstatus geistige Entwicklung gemeinsam mit anderen lernen. Mehr als die Hälfte der Kinder an der Schule bezieht Leistungen aus dem Paket für Bildung und Teilhabe. „In der ersten Testung mit dem Salzburger Lesescreening lagen mehr als die Hälfte der Kinder unterhalb der Norm“, sagt er. Das zweite Lesescreening zeigte, dass sich zwei Drittel der Schüler*innen leicht verbessert hätten. „Wir stärken hier die Hauptfächer. Im Stundenplan haben wir es so eingerichtet, dass wir an vier Wochentagen eine Deutsch-Stunde haben, also 60 Minuten. Und diese Regelmäßigkeit verbessert Leistungen“, sagt Schulleiter Auge.
Versuch mit „Matheband“
Genauso sieht er es beim Lesen: „Klar kann man fragen, was das bringt, die 15 Minuten, wenn sie zu Hause dann doch nicht lesen“, sagt Auge. „Aber die Alternative wäre eben: nichts.“ Der Schulleiter erzählt, dass Lehrer*innen und Leitungen von anderen Reinickendorfer Schulen zu ihnen gekommen seien, um sich das Leseband anzusehen. Ab dem kommenden Schuljahr werden nun alle Reinickendorfer Sekundarschulen ein Leseband einführen. Und an der Julius-Leber-Schule starten sie einen Versuch mit einem Matheband, bei dem die Schüler*innen für ein paar Wochen statt zu Lesen dann Rechnen üben sollen.
Es käme auch vor, dass Schüler*innen sich eher ausklinken. „Ich würde sagen: Etwa Dreiviertel der Schülerinnen und Schüler lesen“, schätzt der Schulleiter. „Andere tun vielleicht nur so, im besten Fall nutzen sie die Zeit, um sich zu beruhigen oder auszuruhen.“ Dass nicht alle immer mitmachen, „das ist Schulrealität“, sagt Auge.
In den 9. und 10. Jahrgangsstufen dürfen die Schüler*innen frei wählen, was sie im Leseband lesen. In Learts Klasse haben sich drei Schüler*innen auf ein kleines Sofa hinten im Klassenzimmer gequetscht. Einer der drei hat ein Buch mit dem Titel „Think and Grow Rich“ in der Hand. Ein Mädchen hat es sich am offenen Fenster bequem gemacht. Mehrere in der Klasse lesen Jugendbücher, etwa „Girl in Pieces“, bei denen sie auch schon ziemlich am Ende sind, andere den Dauerbrenner „Gregs Tagebuch. Eine Schülerin hält einen Diogenes-Krimi mit dem Titel „Nachtschein“ in der Hand. Hier lesen alle leise, ohne das Murmeln, das die Siebtklässler noch begleitet hat. Die Handys stehen vorn bei den Lehrer*innen, die Schüler*innen geben sie vor dem Unterricht ab.
Die Schulstunde nach dem Leseband, sagen manche Lehrer*innen, sei die beste Stunde des Tages. „Sie kommen meist etwas aufgeregt aus der Pause. Nach dem Leseband sind sie entspannt“, er könne dann sehr gut mit den Schüler*innen arbeiten, sagt etwa ein Deutschlehrer an der Schule.
Leart findet sein Buch spannend, mit nach Hause will er es aber nicht nehmen. „Da lese ich eher am Handy“, sagt er. „Wenn in den Texten Wörter sind, die ich nicht kenne, dann google ich“, erzählt Leart. „Aber manchmal lese ich auch einfach weiter, wenn ich zu faul bin, die Seite zu wechseln.“
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