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Lernen ohne soziale KontrolleWenn Fettnäpfchen helfen

Sich selbst zu ertappen hat Macht. So kann man sich ändern, ohne sich rechtfertigen zu müssen, findet unsere Autorin.

Auszeit vom protestantischen Arbeitsethos Foto: Natalia Deriabina/imago

K ürzlich war ich im Auto unterwegs und musste an einer roten Ampel halten. Auf dem Gehweg stand ein Mann, der völlig unbeeindruckt von den Leuten um sich herum sang – vor sich ein Taschenradio auf einem Stromkasten. Ich dachte erst: Was ist denn mit dem los, wieso macht der das, ist der betrunken?

In dem Augenblick wechselte das Programm meines eigenen Autoradios von den Nachrichten zur Musik: Sie spielten mein Lieblingslied von Danger Dan! Sofort drehte ich die Lautstärke voll auf. „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“, sang ich begeistert mit. Und da habe ich mich plötzlich ertappt gefühlt.

Sich ertappt fühlen. Ein schöner Ausdruck, ein interessantes Gefühl! Ich mag diesen Moment, weil ich dann spüre, dass ich unbeabsichtigt über meine eigenen Grenzen hinausgegangen bin. Ein Vorurteil, ein Fettnäpfchen und ich merke, dass ich falsch gedacht, falsch gehandelt habe.

Es ist ein sehr privater und ehrlicher Moment, weil er nicht unter der offensichtlichen sozialen Kontrolle anderer passiert. Stattdessen stelle ich allein die von mir internalisierten sozialen Normen infrage. Wenn andere mich auf einen Fehler hinweisen, ist der erste Reflex oft, mich zu verteidigen, um nicht an sozialem Status zu verlieren. Wenn ich mich aber selber ertappe, gibt es niemanden, der über mich urteilt und keinen, vor dem ich mich rechtfertigen müsste.

Ab einem gewissen Alter glauben wir ja oft, wir hätten das Richtig-oder-falsch-Game schon durchgespielt und könnten jetzt mit einem gut geeichten moralischen Kompass durchs Leben gehen. Dabei schleichen sich die großen gesellschaftlichen Diskurse (Gendern, nachhaltig Leben, eine Alternative zu Twitter finden) meist nach und nach in unser Denken und Handeln. Nur selten trifft uns die Erkenntnis ganz plötzlich.

Sich zu ertappen kann auch unangenehm sein

Bei der Kindererziehung passiert mir das manchmal. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ war ein Grundsatz, den ich von meinen Eltern übernommen und an meine Kinder weitergegeben hatte. Und nachdem ich das Ganze ein Dutzend Mal (oder einhundertmal, bei Kindern kann das ja dauern) wiederholt hatte, stellte ich plötzlich fest: Hoppla, das ist ja ganz falsch! Mir wurde bewusst, dass die Arbeit nie endet, weil es immer etwas zu tun gibt und es meiner eigenen Logik folgend demnach nie Zeit für Vergnügen gäbe.

Ich fühlte mich ertappt in meinem protestantisch kapitalistischen Leistungsethos, das ich eigentlich nicht an meine Kinder weitergeben will. Deshalb planen wir jetzt gemeinsam, wann gespielt und wann gelernt, wann gekuschelt und wann geputzt wird. Denn manchmal kann das eine warten, das andere aber nicht.

Es gibt auch eine sehr unangenehme Form, sich zu ertappen: in der Erinnerung. Als ich neulich an meine Schulzeit dachte, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich mich manchmal falsch verhalten hatte. Erst nach 23 Jahren fiel mir das auf.

Da gab es Mitschülerinnen, auf die wir herabsahen, weil sie zu oft den Freund wechselten; da waren die Unangepassten, die Introvertierten, über die wir herzogen, weil sie nicht so sehr wie wir danach strebten, cool zu sein; und da waren die Mitschüler, die erst gerüchteweise und dann offiziell homosexuell waren und die von uns statt Unterstützung Spott ernteten. Ich wünschte, dass ich das früher gemerkt hätte, denn jetzt ist es zu spät, meinen 16-jährigen Schul­ka­me­ra­d*in­nen beizustehen. Also hoffe ich, dass ich mich in Zukunft noch oft und rechtzeitig ertappen werde.

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