piwik no script img

Lernen in und von der Natur

BILDUNG Obwohl es in Deutschland fast keine „echte“ Wildnis mehr gibt, erleben Schulen für Wildnispädagogik einen Boom – selbst im eher karg bewaldeten Norddeutschland

Wildnisschulen lehren das, was er im Schlaf beherrscht: Deutschlands bekanntester Survial-Experte Rüdiger Nehberg Foto: Axel Heimken/dpa

von Harff-Peter Schönherr

Feuer machen ohne Zippo oder Streichholz? Eigentlich gar nicht so schwer. Da ist zum Beispiel der Klassiker: Flint, möglichst scharfkantig, auf ein Mineral wie Markasit oder Pyrit geschlagen, möglichst eisen- und schwefelhaltig – das ergibt Funken. Das kann man sich anlesen. Oder man bucht einen Kurs. Seit der Boom Ende der 90er begann, gibt es hierzulande, zumindest gefühlt, mehr Wildnisschulen als Seen, Berge und Bäume.

Wildnis. Je mehr von ihr die Ressourcen- und Profitgier unserer Moderne vernichtet, desto nachhaltiger werden ihre Reste zum Sehnsuchts- und Rückzugsraum. Überlebensgurus wie Bear Grylls überschwemmen actionlastige TV-Sender, Bushcraft-Gear-Kanäle generieren auf Youtube Hunderttausende Klicks. In Onlineshops finden selbst panischste „Doomsday-Prepper“ alles, was das Herz begehrt für den Tag, wenn der „große Knall“ uns zurückwirft ins Vorzivilisatorische.

Wer also Wildnispädagogik draufhat, hat Zukunft. Erst recht, wer dabei die Wildnispädagogen von morgen ausbildet. Heiko Gärtners „Naturspirit“ operiert vom südniedersächsischen Einbeck aus. Die Bandbreite der Lehrgänge ist groß, Fortbildungen für Kindergarten-Erzieher und Lehrer inklusive. Wer bei Gärtner Wildnispädagoge wird, von der Wetterkunde bis zur Werkzeugherstellung, absolviert, über einen Zeitraum von einem Jahr, sechs Wochenendseminare plus Hausaufgaben und Praktikum.

Wer will, kann die Ausbildung „Wildnisexperte“ draufsatteln. Dauer: „Exakt eine Mondphase, das heißt 28,5 Tage“, als Langzeitcamp im Wald. Oder man entscheidet sich gleich für die dreijährige „Wild­nis­lehrer“-Ausbildung. Wer bei Gärtner dann auch noch „Survival-Experte“ und „Lebensberater im Bereich Naturmedizin“ geworden ist, hat Anrecht auf das Zertifikat „Wildnismentor“.

Das Problem bei der Wildnispädagogik: Eine verbindliche Detaildefinition ihrer Ziele, Methoden, Begriffe und Themenfelder gibt es nicht, Dauer und Aufbau der Ausbildung variieren von Anbieter zu Anbieter, und die Grenzen zur Umwelt-, Natur-, Öko- und Erlebnispädagogik sind fließend.

Gero Wever, Leiter der „Natur- und Wildnisschule Teutoburger Wald“ im westfälischen Halle ist das sehr bewusst. Netzwerken ist ihm wichtig, auch um „grundlegende Inhalte und Standards“ festzulegen. Wildnispädagogik, sagt Wever, „greift auf etwas Ureigenes in uns Menschen zurück. Sie stärkt mit selbst gemachten und oft sehr tiefen Erfahrungen unsere Verbindungen zum eigenen Selbst, der Natur und der Gemeinschaft“.

Ein guter Wildnispädagoge bemühe sich, „passende Lernsituationen zu initiieren“, wisse aber: „Das Lehren selbst übernimmt dann Meister Natur.“ Wildnis beginne im Kopf. „Das Transferieren selbst gemachter Erfahrungen in Natur in den eigenen Alltag ist der nächste Schritt hin zu mehr Einfachheit, Selbstvertrauen, Klarheit und Bauchgefühl in Job, Familie und persönlichem Alltag.“

„Wildnisschulen“ im Norden

BINU in Hamburg bietet ab dem 30. September die berufsbegleitende Ausbildung zur Fachkraft für Naturerlebnispädagogik an. Infos: www.natur-schafft-wissen.de

Naturspirit in Einbeck bietet Fortbildungen zum Survival- und Wildnisexperten an sowie Ausbildungen zum Wildnispädagogen oder -mentor. Infos: www.heiko-gaertner.de

Seenland bietet an der Mecklenburgischen Seenplatte und in Brandenburg Kurse und Wildnispädagogik-Weiterbildungen an. Infos: www.wildnisschule-seenland.de

DieWaldläufer-Akademie veranstaltet in einem Waldstück bei Hamburg Bushcraft- und Outdoor-Basiskurse sowie den Jahreskurs „Waldläufer Leben“. Infos: www.waldlaeufer-akademie.de

Wieland Woesler, Leiter der „Wildnisschule Seenland“, Mirow, Mecklenburgische Seenplatte, denkt ähnlich: „Unsere Teilnehmer sollen auf so vielfältige Weise wie möglich ihre Verbindung zur Natur wieder aufbauen, stärken und erleben.“ Und: „Durch die intensiven Naturerlebnisse und den Rückhalt der Gemeinschaft kommen sie in Kontakt mit sich selbst. Sie spüren sich und entdecken ihre eigene Lebendigkeit. Die Natur berührt uns und das öffnet etwas in uns. Menschen öffnen sich uns und das bewegt etwas in uns.“ Durch seine tiefe Verbindung zur Natur führe ein guter Wildnispädagoge seine Teilnehmer „zur richtigen Zeit an die richtigen Orte für einprägsame Erlebnisse“.

Wildnispädagogik kann also vieles bedeuten. Manche Anbieter fokussieren auf das Wissen einstiger oder heutiger indigener Völker, andere spezialisieren sich auf die Technologie von Einzelepochen wie Mittelalter oder Steinzeit. Und oft geht es tief hinein in die Esoterik. Neben Pirschen und Wasserfiltern, Gerben und Messerschmieden finden sich dann auch Inhalte wie „Visionssuche“ und Traumdeutung, „Art of Truthspeaking“ und „Erdphilosophie“, wie „Sa­cred Silence“, Chakratiere werden genauso thematisiert wie das „Inner Child“.

Diese Ausweitung in Richtung Lebenshilfe macht Timo Kluttig, beim Osnabrücker Natur- und Geopark Terra-Vita unter anderem zuständig für Umweltbildung, skeptisch. Wildnispädagogik, die Wege aufzeige, wie man ein tieferes Naturverständnis erlangen könne, das über das rein naturwissenschaftliche Verständnis von Vorgängen hinausgehe, sei für ihn kein Problem. Aber: „Eine Grenze wird überschritten, wenn die Ausbildung ins Spirituelle oder gar Religiöse abgleitet.“

Das Großschutzgebiet Terra-Vita – es umfasst Wiehengebirge und Teutoburger Wald – zieht eigene Natur- und Landschaftsführer heran. Von Wildnis ist da nicht die Rede. Kluttig: „‚Wildnis‘ im engeren Sinne bildet in der hiesigen Kulturlandschaft ja auch eher die Ausnahme.“ Wer darunter allerdings auch die, so Heiko Gärtners Wildnislexikon, „wilde, ursprüngliche Natur in uns selbst sowie der wilden, ungezüchteten Pflanzen und Tiere um uns herum“ versteht, wird leicht fündig.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen