Leistungssportler in der Politik: Aus dem Velodrom ins Parlament
Olympiasieger Jens Lehmann sitzt für die CDU im Bundestag. Von Sportfunktionären hat er gelernt, was man nicht machen sollte.
Er sitzt in seinem sonnendurchfluteten Bundestagsbüro im Paul-Löbe-Haus, wunderschöner Blick auf den Reichstag, und spricht von der Verpflichtung, die ein Politiker dem Wähler gegenüber hat. „Ich möchte den Leuten, die mich gewählt haben, treu bleiben.“ Hinter ihm fallen zwei Bücher ins Auge: das statistische Jahrbuch von 2017 und ein Band über Helmut Kohl, „Auf dem Weg“, herausgegeben von Kai Diekmann. Lehmann, weißes Hemd, Jeans, dunkelblaues Sakko, wirkt so kregel wie ein Abenteurer vor einer größeren Expedition. Nur macht er sich nicht auf ins ewige Eis oder in die Berge Patagoniens, sondern in die struppige politische Landschaft Berlins.
Seit ein paar Monaten ist Lehmann Bundestagsabgeordneter für die CDU, ein Neuling in der großen Politik, aber ein Experte in der kleinen. Er sitzt seit Jahren im Leipziger Stadtrat. Er kennt sich aus mit der Fummelei an der Basis. Es war gut für ihn, dass Angela Merkel so lange gebraucht hat, bis sie weiterregieren konnte. Das gab ihm Zeit, sich in die Gepflogenheiten der Berliner Republik einzuarbeiten.
Am Morgen gegen halb sieben ist er wie jeden Tag gejoggt, zehn Kilometer durchs Regierungsviertel, an der Spree entlang. Das muss sein. Er braucht den Sport, schließlich war er über zwei Jahrzehnte in ihm zu Hause. Lehmann war Leistungssportler. Und was für einer: zwei Olympiasiege mit dem Bahnvierer; zwei olympische Silbermedaillen in der Einer-Verfolgung auf der 4.000-Meter-Strecke; viele Weltmeistertitel; Plaketten ohne Ende. Er hat alles erreicht auf den Bahnrad-Ovalen dieser Welt.
Und jetzt ist er Abgeordneter. „Wahnsinn“, sagt Lehmann. Seine Augen strahlen. Es sprudelt nur so aus ihm heraus. Man muss ihn nach 90 Minuten fast bremsen. Müsste er nicht schon längst bei der Senioren-Union sein?
Der andere Jens Lehmann
Sportler haben sich immer wieder in der Politik versucht. Lehmanns Parteikollege Eberhard Gienger, ein erfolgreicher Kunstturner, ist Mitglied des Fraktionsvorstands. Für die Linken saß Speerwurf-Olympiasiegerin Ruth Fuchs im Bundestag und später Rad-Weltmeister Gustav-Adolf Schur, der im Osten immer nur Täve hieß. Lehmann kommt ohne Spitznamen aus, aber im Osten wissen die Sportfans natürlich, dass Jens Lehmann nicht nur der Name dieses eigenwilligen Torwarts ist, sondern dass es auch den Radsport-Lehmann gibt, der vielleicht genauso eigenwillig ist wie der Ballfänger.
Lehmann ist in der DDR groß geworden, im Südharz. Weil er Talent hatte, schickte man ihn auf die Sportschule in Leipzig. Dort lernte er, dass nur eines zählt: Leistung. Wer keine Leistung brachte, wurde aussortiert. Aber der Bursche von der BSG Mifa Sangerhausen konnte sich schinden, seinen Körper an Grenzen treiben und manchmal darüber hinaus – eine Gabe, die ihn auf den Olymp führen sollte.
Jens Lehmann
Lehmann verschrieb sich dem Radsport, und das Einzige, was er von seinen Trainern verlangte, war, dass sie seine ständige Leistungsbereitschaft und seinen punktgenauen Formaufbau anerkannten. Aber in der Welt des Sports gibt es oft andere Kriterien der Beurteilung. Wie formbar ist ein Athlet? Wie gut passt er sich auch an merkwürdigste Umstände an? Besitzt er Hausmacht im Verband? Weil Lehmann alles andere als ein manipulativer Typ ist, hatte er es schwer in diesem widersprüchlichen Sportsystem, in dem Leistung alles ist, aber eben nicht immer.
Der Olympiasieger von 1992 wurde vier Jahre später nicht für die Sommerspiele berücksichtigt. Man sagte ihm, er sei zu alt. Das hielt ihn nicht davon ab, im Jahr 2000 erneut Olympiasieger zu werden, in Weltrekordzeit. Zusammen mit Robert Bartko, Guido Fulst und Daniel Becke unterbot er eine magische Grenze. Nach 3:59:710 Minuten blieb die Uhr stehen. Es war eine reine Zweckgemeinschaft, aber egal, das Quartett war schnell. Es zeigte Leistung. Das reichte.
Der Fall Lehmann
Merkwürdig wurde es im Jahr 2003. Bei der WM in Stuttgart wollte sich der deutsche Radsport von seiner schönsten Seite präsentieren, aber es wurde eine hässliche Angelegenheit. Der Sportdirektor des Bundes Deutscher Radfahrer, Burkhard Bremer, protegierte seine Günstlinge im Team, Fahrer aus Berlin. Bremer, den man laut Gerichtsbeschluss als „belasteten Funktionär aus den heißen Zeiten des Dopings“ bezeichnen darf, brüskierte die eigentlich besseren Fahrer aus Thüringen und Sachsen, allen voran Jens Lehmann, der seinen Platz in der Einer-Verfolgung für Bartko räumen musste.
Lehmann und Co. wollten bei diesem Ränkespiel nicht mitmachen. Sie stellten Bedingungen. Der Verband meldete den Vierer ab. Es kam zum Eklat, zum Fall Lehmann. Erstmals seit 1962 ging kein deutscher Bahnvierer an den Start. Damals sagte Lehmann der taz: „Mich hat selten etwas so tief getroffen und gedemütigt.“ Der widerspenstige Athlet wurde suspendiert, später begnadigt, nur um dann bei der Nominierung für die Olympischen Spiele in Athen wieder ausgebootet zu werden. Lehmann wollte nie in die Rolle des Querulanten schlüpfen, er bestand nur auf seinem Recht: „Ich bin stolz darauf, dass ich standhaft geblieben bin.“
Heute spricht er lockerer über die Willkür des Verbands, den damals das SPD-Mitglied Sylvia Schenk leitete: „Es war ja teilweise ganz lustig, wie meine Anwälte diese verbitterten, vor Wut schäumenden Funktionäre vorgeführt haben.“ Bitter habe ihn die Affäre damals nicht gemacht, denn er habe immer eine andere Option gesucht. Eine Option außerhalb des Leistungssports. Sich so zu verkämpfen wie Claudia Pechstein, das wäre Lehmann nie in den Sinn gekommen, sagt er.
Er ließ den Leistungssport mit 37 hinter sich. Machte einen harten Schnitt. Und wurde Erzieher. „Ich wollte nicht mehr im Sportsystem sein, ich wollte eine neue Welt entdecken.“ Der Radsportler, der auch an Weihnachten und Silvester Kilometer schrubbte, der sich auch bei zehn Grad minus auf den Sattel schwang, ging in den Hort, zeigte den Kindern Frühblüher und was es heißt, immer für die Kinder da zu sein. „Ich war keinen einzigen Tag krank“, sagt der Mann, dem die Wandlung vom Rennradler zum leidenschaftlichen Pädagogen geglückt ist.
Wahlkreis Leipzig I gewonnen
Aber hätte er nicht auch als Trainer mit Kindern arbeiten können? Nein, sagt Lehmann, er hätte den Kids zu viel zugemutet. „Ich habe die Geradlinigkeit und Leistungsbereitschaft eingeimpft bekommen.“ Dieser Impfstoff wird heute seltener verabreicht, also schlussfolgert er: „Nein, ich wäre kein guter Trainer geworden.“ Aber ist der Familienvater, der mit seiner Frau, einer ehemaligen Radsportlerin, in einem Häuschen im Osten Leipzigs wohnt, ein guter Politiker geworden? Das Leipziger Stadtmagazin Kreuzer findet, er falle vor allem durch Unauffälligkeit auf, „wobei er sich inhaltlich zwar ein bisschen progressiv positioniert, sich vor allem aber allgemein hält“.
Ein hartes Urteil, denn Lehmann, der ja auch noch Vizepräsident des Stadtsportbundes Leipzig ist, hat viele kleine Sachen durchgekämpft, zuletzt eine Novelle der Straßenausbausatzung. Was staubtrocken klingt, war ihm „sehr wichtig“, weil Anwohner dadurch finanziell entlastet werden. Das versteht Lehmann unter bürgernaher Politik. So hat er den Wahlkreis Leipzig I gewonnen, mit sieben Prozentpunkten Vorsprung vor einem AfD-Kandidaten.
Im Wahlkampf hat Lehmann schon mal vom „Versagen des Staates während der Flüchtlingskrise“ gesprochen und von „Problemen, die unter den Teppich gekehrt worden sind“, aber er war weit entfernt von den Positionen seiner Leipziger Parteikollegin Bettina Kudla, die auf Twitter vor einer „Umvolkung“ warnte. Lehmann profitierte von dieser Entgleisung. Er erkämpfte Kudlas Wahlkreis.
Jens Lehmann hat aus den harten Auseinandersetzungen mit den Sportfunktionären gelernt, dass es manchmal besser ist, etwas biegsamer zu sein, konzilianter. Er hat akzeptiert, dass er nur stellvertretendes Mitglied im Sportausschuss geworden ist. Und als er vor Kurzem seine erste Rede im Bundestag über Verteidigungspolitik hielt, da lobte er zweimal überdeutlich die Arbeit „der Ministerin“. Ursula von der Leyen bedankte sich für den Beistand des Novizen. Das hat also schon mal funktioniert. Woran er sich noch nicht gewöhnt hat, sind die ewigen Sitzungen. Aber er will da durch, die Zähne zusammenbeißen wie bei einer Regenetappe. „Das ist jetzt mein Job.“
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