Lehrerin über Linnemanns Aussage: „Es ist falsch, Kinder auszusieben“
Das Fachliche wird überbewertet, sagt die Schul-Expertin Mona Massumi. Kinder, egal welcher Herkunft, lernen besser, wenn das soziale Gefüge stimmt.
taz: Frau Massumi, wie integriert man Kinder in eine Regelklasse, die kein Deutsch sprechen?
Mona Massumi: Da gibt es keine einfache Lösung. Es müssen Rahmenbedingungen für Lehrkräfte geschaffen werden, damit individuelle Förderung möglich ist. Und zwar nicht nur für neu Zugewanderte, sondern auch für alle anderen. Das heißt, kleinere Klassen, vernünftige Räume. Generell ist es gut, stärker in multiprofessionellen Teams zu unterrichten.
Das bedeutet?
Lehrer und Sozialarbeiter arbeiten auf Augenhöhe zusammen. Das alles sind grundlegende Bedingungen, die immer wieder gefordert werden, auch in der Debatte um Inklusion. Die Qualifizierung von Lehrkräften gehört sicher auch dazu, und zwar nicht nur von Deutschlehrern. Auch Mathe- und Physiklehrer müssen über Sprachbildung im eigenen Unterricht Bescheid wissen. Das kommt allen Schülern zugute.
Sie sind selbst Lehrerin und unterrichten an einem Berufskolleg. Für Ihre Dissertation haben Sie Jugendliche befragt, die nach Deutschland zugewandert sind.
Ja, sozusagen die schwierigste Gruppe, wenn es darum geht, in kurzer Zeit Deutsch zu lernen und einen Schulabschluss zu erreichen. Darunter waren sowohl Jugendliche, die gerade mal ein Jahr im Ausland zur Schule gegangen waren, als auch solche, die schon im Ausland studiert hatten. Was ich im Rahmen meiner Studie beobachtet habe: Häufig wird in der politischen und erziehungswissenschaftlichen Debatte ein absoluter Fokus auf die Deutschkenntnisse gelegt und überlegt, was den Schülern fachlich fehlt.
ist Lehrerin am Zentrum für LehrerInnenbildung der Uni Köln. Dort arbeitet sie an ihrer Dissertation zu Schulbiografien von migrierten Jugendlichen.
Deutschkenntnisse werden überbewertet?
Der soziale Aspekt des Lernens wird viel zu wenig berücksichtigt. Lernen findet immer in einem sozialen Gefüge statt. In meiner Studie haben viele Schüler angegeben, dass sie eigentlich wüssten, was die Lehrer*in von ihnen wollte, sich aber nicht trauten, weil sie Angst haben, ausgelacht zu werden.
Wenn der soziale Faktor so wichtig ist, wie kann man ihn fördern?
Da muss in der Lehrer*innenbildung viel genauer hingeschaut werden, wie Klassengemeinschaften gestärkt werden. Es reicht nicht nur, geeignete Methoden, wie kooperatives Lernen, einzusetzen. Es muss darum gehen, das Wohlbefinden der Schüler*innen zu stärken.
Ist es für Kinder, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, wirklich sinnvoll, mit überlegenen Mitschüler*Innen in eine Klasse zu gehen? Sollten sie nicht besser zurückgestellt werden?
Auf keinen Fall. Denn die Basis für soziales Lernen wird in der Grundschule gelegt. Wo, wenn nicht hier, lernen Kinder, dass Unterschiedlichkeit normal ist. Für die Grundschule war Heterogenität auch nie die Frage, die stellt sich erst in der weiterführenden Schule. Die Debatte, ob man Kinder von der Einschulung zurückstellt, wenn sie nicht ausreichend Deutsch sprechen, wirft diesen inklusiven Gedanken über Bord.
Sind Extraklassen nicht sinnvoll, wenn Lehrer*innen überfordert sind?
Nein, es ist der falsche Ansatz, die Kinder auszusieben und zu sanktionieren, nur weil eine Lehrkraft überfordert ist. Jedes Kind hat das Anrecht, angemessen gefördert zu werden. Wir müssen stattdessen die Lehrkräfte schnellstmöglich qualifizieren, damit sie diesem Anspruch gerecht werden und die passenden Rahmenbedingungen in der Schule schaffen. Wenn Kinder schon vor dem Beginn der Bildungsbiografie ausgeschlossen werden, dann beginnt Bildungsungerechtigkeit schon vor dem Beginn der Grundschule.
Sind Lehrkräfte ausreichend auf Heterogenität vorbereitet?
Nein. Also: Die meisten Lehrkräfte sind aufgeschlossen und finden Vielfalt gut. Aber das Schulsystem ist natürlich auf Selektion und Homogenisierung ausgerichtet. Die Lehrkräfte stehen total unter Druck, sie müssen den Lehrplan unterrichten. Und dann ist es für Lehrkräfte auch manchmal einfacher zu sagen: Dieses Kind steht mir im Wege, es sollte woanders unterrichtet werden.
Haben Sie in Ihrer Studie Faktoren gefunden, die zum Erfolg führen?
Was bei allen Befragten der Fall war: Sie waren immer dann erfolgreich, wenn das Bildungssystem sehr sensibel, flexibel und individualisiert auf unterschiedliche Voraussetzungen reagiert hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos