LehrerInnen über vergessene Schulen: „Diese Eltern sind belasteter“

Sonderschulen spielen in der Debatte über Unterricht im Lockdown keine Rolle. Ein Gespräch über Versäumnisse der Politik und übersehene SchülerInnen.

Ein Rollstuhl steht vor einer Schulbank, an der ein Mädchen sitzt

Droht in Coronazeiten aus dem Blick zu geraten: Unterricht für Kinder mit Behinderung Foto: Inga Kjer/ dpa

taz: Frau Zimmermann, Herr Pallas, warum fallen die Sonderschulen in der Debatte um Schule zu Coronazeiten so unter den Tisch?

Dirk Pallas: Der Normalfall ist, nicht eine Sonderschule zu besuchen. Wir sind eine Randerscheinung, inbesondere, weil es immer mehr Inklusionskinder gibt, die in allgemeinbildende Schulen gehen.

Regina Zimmermann: Dadurch und durch die pränatale Diagnostik sind wir eine aussterbende Art. Ich glaube, dass im Augenblick im Kontext mit den Schulabschlüssen die Sorge sehr groß ist, dass die Kinder nicht genug lernen. Bei uns gibt es keine Schulabschlüsse, ich könnte mir vorstellen, dass wir auch deshalb durchrutschen.

Pallas: Normalerweise soll Schule ja auf den Beruf vorbereiten und wirtschaftsstützende Menschen hervorbringen – das fällt bei uns weg. Auch wenn einige wenige SchulabgängerInnen eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt finden. Ich denke, wir sind noch immer eine Gesellschaft, wo es auf die wirtschaftliche Verwertung ankommt.

Zugleich ist es eine sehr verletzliche Gruppe von Kindern und Jugendlichen: Viele sind gesundheitlich ohnehin gefährdet und der Alltag der Familien ist auch ohne Pandemie sehr anstrengend.

Pallas: Diese Eltern sind belasteter als andere Eltern. Sie kommen nie richtig aus dem Betreuungsverhältnis heraus.

55, ist seit 2013 Sonderschul­lehrerin in der Hamburger Schule Weidemoor und Klassenlehrerin ­in einer Oberstufenklasse.

Zimmermann: Es ist eine sehr heterogene Gruppe. Wir haben Kinder mit mehrfach Schwerstbehinderung, wir haben Kinder mit Lernbehinderung und solche, die Schwierigkeiten haben, ihre Impulse zu steuern. Ich glaube, den meisten ist gar nicht klar, was eine Sonderschule ist. Wir basteln nicht nur und spielen mit Schaum, wir machen da ganz klar Schule: Lesen und Schreiben lernen, wir machen politische Bildung. Wir machen Mathe bis hin zu schriftlicher Multiplikation und Division. Bei uns ist ein großer Fokus auf dem sozialen Lernen, da kann ein Schüler, der mit schriftlicher Division unterwegs ist, dann einem anderen beim Anziehen helfen. Wir fallen mit den Stärken unserer Schüler aber absolut raus, das interessiert niemanden.

Wie sieht der Schulbetrieb derzeit aus?

54, ist seit 12 Jahren als Erzieher an der Hamburger Schule Weidemoor mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung tätig.

Pallas: Es haben nach wie vor alle Eltern das Recht, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Viele Eltern sind so vernünftig und lassen das. Wir haben jetzt maximal vier Kinder in einer Klasse, das schaffen wir auch. Im Regelbetrieb sind es etwa elf, da können wir keinen 1,5-Meter-Abstand einhalten. Unsere große Sorge ist, was kommt, wenn der Präsenzbetrieb wieder eingeführt wird?

Warum?

Wir haben ein Klassenzimmer, das 40 Quadratmeter hat, in dem auch ein Lagerungsbett steht und in dem wir essen. Wenn wir dort elf SchülerInnen haben, zwei Lehrkräfte, zwei ErzieherInnen und drei Schulbegleitungen, sind wir 18 Menschen. Da können wir natürlich nicht die 1,5 Meter Abstand halten. Derzeit haben wir drei Schüler mit Maskenbefreiung.

Pallas: Und es werden immer mehr, die aus medizinischen Gründen eine Maskenbefreiung haben. Im Schulalltag vergessen die SchülerInnen häufig während des Spiels, Abstand zu halten oder die Maske richtig aufzusetzen. Streng gesehen ist jeder mit Schwerbehinderung davon befreit, aber zum Glück nutzen das nicht alle. Ein Wesen der Sonderschule ist auch, dass wir dichter an die SchülerInnen heran müssen, wir zeigen ihnen Dinge mit Handführung.

Was bräuchten Sie, um so unterrichten zu können, wie Sie es für verantwortungsvoll halten?

Zimmermann: Wir brauchen auf jeden Fall Wechselunterricht. Wir haben viele Kinder mit Vorerkrankungen und das ist ein großes Problem.

In Nordrhein-Westfalen gehen SchulbegleiterInnen jetzt zu den Familien nach Hause. Gibt es ähnliche Hilfen in Hamburg, um die Familien zu entlasten?

Zimmermann: Meines Wissens nach nicht. Es ist vorgeschrieben, dass der Job des Schulbegleiters in einer schulischen Veranstaltung ist. Aber es ist eine super Forderung. Für den Moment fordern wir einen kostenlosen Test auch für Zweitkontakt-Personen und mehr FFP2-Masken – wir bekommen drei pro Woche. Und wir brauchen professionelle Lüftungssysteme.

Pallas: Und wir brauchen mehr Busse. Die meisten unserer SchülerInnen kommen per Bus und da werden die Kohorten vollständig vermischt und der Mindestabstand ist kaum einzuhalten.

Was hören Sie aus den Familien?

Zimmermann: Unterschiedliches. Bei vielen läuft es gut – aber wir haben auch eine sehr lernstarke Klasse. Wir machen auch Unterricht per Videokonferenz, das ist aber nur begrenzt möglich, weil wir sehr handlungsorientierte Inhalte haben. Lernen ist umfassender, als ein Arbeitsblatt richtig zu bearbeiten. Die Eltern sind teilweise sehr angestrengt, das soziale Umfeld für die SchülerInnen ist sehr eingeschränkt. Und bei den Kindern mit schwerer Behinderung ist es noch mal schwieriger.

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