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Lehren aus der VerkehrspolitikMit der Durchschlagkraft von Seifenblasen

Wissen ist nicht immer Macht – leider. Das muss unsere Autorin immer wieder feststellen. Was hilft gegen den Verkehrswende-Blues?

„Karma hin oder her: Verbrenner stinken!“ Foto: deposit/imago

N ach zwanzig Jahren Verkehrspolitik-Begleitung befallen mich in letzter Zeit Anwandlungen ernüchternd klarer Erkenntnisse. Eine ist zum Beispiel, dass Wissen nicht Macht ist, sondern die Durchschlagkraft von Seifenblasen hat: Es gibt niemanden, der sich schon mal länger als drei Minuten mit Mobilität beschäftigt hat, der nicht weiß, dass (durchgesetztes) Tempo 30 Leben rettet. Trotzdem werden in Berlin gerade sogar Straßen wieder tempomäßig hochgesetzt.

Da zu Hause bleiben und traurige Musik hören gegen diesen Verkehrswende-Blues nicht hilft, versuche ich es gerade mit Perspektivwechseln. Und bin zum zweiten Mal zu einem Vortrag über buddhistische Philosophie gegangen. Das letzte Mal war mir dort ja empfohlen worden, mein gerade gestohlenes Rad zu verschenken – um die karmische Verbindung mit dem neuen Besitzer aufzulösen und dadurch diesem Menschen nie wieder begegnen zu müssen. Eine originelle Herangehensweise fand ich, und wollte dieses Mal gerne etwas zu Ursache und Wirkung hören. Das Prinzip „Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“ ist schließlich Fundament der Philosophie.

Also fragte ich: „Wenn man wie in Helsinki ‚überwacht 30‘ in den Wald ruft, kommen null Verkehrstote heraus. Wenn man wie in Berlin ‚wir stochern mal hier, mal da und drehen es dann wieder zurück‘ hineinruft, schallen 55 Tote heraus. Wie kann man…?“ Weiter kam ich nicht. Mein Beispiel habe nichts mit karmischer Ursache und Wirkung zu tun, meinte die Vortragende. „Wenn es die karmische Ursache für einen tödlichen Unfall gibt, dann begegnen sich die beiden – egal bei welcher Geschwindigkeit. Man kann bei jeder Geschwindigkeit sterben.“

Das stimmt. Gerade wurde in Berlin ein Fall verhandelt: Ein Fahrer verlässt via Gehweg einen Parkplatz, das Assistenzsystem piept. Er steigt aus, sieht nichts, fährt weiter. Nach 400 Metern hält er an, weil etwas hubbelt. Unter dem Wagen: eine Frau, zu Tode geschleift. Unfallhergang: unklar. Oder der Fall vor einigen Jahren auf einer meiner Hauptstrecken, einer verkehrsberuhigten Zone: Autofahrer und Radlerin nähern sich in Schrittgeschwindigkeit einer Kreuzung, haben Sichtkontakt, der Autofahrer kommt auf der Radfahrerin zum Stehen. Sie erstickte unter dem Auto.

Aber Karma hin oder her: Verbrenner stinken! Ließe sich die Verkehrswende nicht buddhistisch irgendwie vorantreiben? „Nein“, sagte die Lehrerin. „Wenn jemand schon den Zement für ein Tempo-30-Schild gegossen hat und dich bittet, es kurz festzuhalten, während der Zement trocknet – dann kannst du das tun. Alles andere ist verschwendete Energie.“ Besser als zu motzen und zu kämpfen sei, gute Wünsche für die Regierenden zu machen. Deren Karma sei, diese Jobs zu machen – und ich können wünschen, dass sie diese Arbeit zum besten aller Wesen erledigen.

Man soll unorthodoxen Lösungen ja eine Chance geben. Auf dem Rückweg machte ich einen Schlenker durch Regierungsviertel und am Roten Rathaus vorbei und murmelte gute Wünsche. Das Volksbegehren „Berlin autofrei jetzt“ werde ich auch unterschreiben. Das haben Menschen mit Fundamentgießer-Karma ja schon vorbereitet.

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Kerstin Finkelstein
Dr. phil, Expertin für Verkehrspolitik und Migration. Studium in Wien, Hamburg und Potsdam. Volontariat beim „Semanario Israelita“ in Buenos Aires. Lebt in Berlin. Fährt Fahrrad. Bücher u.a. „So geht Straße“ (Kinder-Sachbuch, 2024), „Moderne Muslimas. Kindheit – Karriere - Klischees“ (2023), „Black Heroes. Schwarz – Deutsch - Erfolgreich“ (2021), „Straßenkampf. Warum wir eine neue Fahrradpolitik brauchen“ (2020), „Fahr Rad!“ (2017).
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