: Legal, illegal, scheißegal
Einheitliche Coronaregeln? Von wegen. Manche Ministerpräsidenten weichen von den gerade erst gemeinsam gefassten Beschlüssen ab. Brandenburg erfindet gar eine eigene Inzidenz-Messlatte
Von Ulrich Schulte
Es ist ein bekanntes Spiel: Manche Bundesländer weichen auf eigene Faust von den gerade erst gemeinsam gefassten Coronabeschlüssen ab. Brandenburg hat zum Beispiel die Inzidenz-Messlatte deutlich nach oben korrigiert, ab der Verschärfungen als sogenannte Notbremse wieder greifen sollen. Auch Nordrhein-Westfalen legt diese Notbremse in einer aktuellen Verordnung anders aus, als es Kanzlerin Angela Merkel und die MinisterpräsidentInnen vor einer Woche beschlossen haben.
Es geht um eine entscheidende Frage: Wann müssen Länder die vorsichtigen Lockerungen zurücknehmen und zu einem strengeren Lockdown zurückkehren? Merkel und die LänderchefInnen hatten am 3. März beschlossen, die Möglichkeit zu privaten Treffen mit Freunden, Verwandten und Bekannten ab dem 8. März zu erweitern. So sind seit Montag private Treffen des eigenen Haushalts mit einem weiteren Haushalt möglich, jedoch auf fünf Personen beschränkt. Kinder bis 14 Jahren werden nicht mitgezählt. Zwei Paare dürfen sich also mit mehreren Kindern treffen. Nach den alten Regeln durfte sich ein Haushalt nur mit einer weiteren Person treffen.
Allerdings vereinbarten Merkel und die MinisterpräsidentInnen eine Notbremse. Falls die 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner an drei aufeinander folgenden Tagen in einer Region oder in einem Bundesland auf über 100 steigt, treten ab dem zweiten darauffolgenden Werktag die alten Regeln wieder in Kraft. Durch diesen Mechanismus soll ein unkontrolliertes Ausbreiten der Pandemie verhindert werden.
Brandenburg hat die Inzidenz, ab der die Notbremse greifen soll, nun eigenmächtig auf 200 festgelegt. Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) sagte am Dienstag, die Kritik an Brandenburg sei „ein Sturm im Wasserglas“. Die Werte im Bundesland gingen zurück. Die Landesregierung gehe einen „ausgewogenen Weg“. Sobald sich der landesweite Inzidenzwert beharrlich 100 nähere, werde sie über konkrete Schritte ab Überschreiten der 100er-Marke entscheiden. „Dies ist auch juristisch begründet, denn harte Grundrechtseinschränkungen durch einen erneuten harten Lockdown dürfen nach unserer Auffassung nicht automatisch erfolgen“, sagte Woidke.
Auch Nordrhein-Westfalen, wo Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) zusammen mit der FDP regiert, setzt die Beschlüsse der Bund-Länder-Runde nicht 1:1 um. In der Landesverordnung zu den neuen Coronaregeln ist von einer Notbremse nirgendwo die Rede. Falls in Kreisen und kreisfreien Städten die Inzidenz „nachhaltig und signifikant“ über 100 liege, prüften diese die „Erforderlichkeit über diese Verordnung hinausgehender zusätzlicher Schutzmaßnahmen“. Keine Rede also von einer automatischen Rückkehr zu alten Regeln, wie es Armin Laschet noch vor einer Woche in der Bund-Länder-Runde mitbeschlossen hat – stattdessen eine Prüfung. „Ein reiner Automatismus ist weder im Beschluss vorgesehen noch aus Gründen der Rechtssicherheit möglich“, sagte ein Sprecher Laschets. Beide Vorgehensweisen seien wirkungsgleich.
Sowohl Brandenburg als auch NRW rechtfertigen sich also mit Ausflüchten. Denn beide beharren darauf, dass in dem Beschluss, den Woidke und Laschet unterschrieben, nicht von einem Automatismus die Rede sei. Genau das ist aber der Fall. Und wenn Woidke und Laschet nun Zweifel an der Rechtssicherheit eines solchen Automatismus formulieren – warum fiel ihnen das nicht schon in den Bund-Länder-Beratungen ein? SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach nannte Brandenburgs Vorgehen auf Twitter „mittelgradig unglaublich“. „Wenn das alle Bundesländer machen, wird es [eine] schwere dritte Welle geben und dann langen Lockdown.“
Auch nach früheren Bund-Länder-Runden hatte es unterschiedliche Auslegungen in den Ländern gegeben, etwa bei den Schulschließungen und -öffnungen. Laschet hatte zum Beispiel vor einem Jahr früh Möbelhäuser wieder öffnen lassen. Nordrhein-Westfalen sei das Land der Küchenbauer, hatte er sich damals im CDU-Präsidium gerechtfertigt.
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