Lebensqualität in deutschen Städten: Schlusslicht Gelsenkirchen
In einer Studie zur Lebensqualität in Deutschland ist Gelsenkirchen auf dem letzten Platz gelandet. Ist es dort wirklich so schlimm? Ein Besuch.
„Könn’ wa zahlen, Kathi?“
„Ey, ich hab mich gestern rasiert.“
„Deine Kamera macht mich so hässlich.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Rechts schiebt eine Frau ihren Rollator. Links tritt eine Frau, die Kopftuch trägt, von einem Mann zurück. Ihre Stimme wird schrill: „Hast du mit der Sex gehabt oder was?“
In Gelsenkirchen City trifft man so aufeinander. In der Altstadt, auf dem Heinrich-König-Platz, den zwei Kirchen überragen, die sich gegenüberstehen –die eine katholisch, die andere evangelisch. Wo die Tram in den Untergrund fährt, sich stuckverzierte Fassaden neben Betonbauten reihen. Wo man zur Sparkasse geht, in volle Cafés und den „Schalke“-Laden.
Ort des Geplänkels
Der „Heinrich“ ist der Marktplatz. „Drehpunkt. Treffpunkt. Mittelpunkt“ der Stadt, wie es auf gelsenkirchen.de heißt: Im Mai 2017 ist er nach jahrelangem Umbau fertig geworden. Der „Heinrich“ ist Ort des Geplänkels. Hier erfährt man schnell, wie man in dieser Stadt lebt:
„Alter, hier gibt’s keine Jobs.“ „Und keine Frauen.“
„Was hier alles zu Ende geht! Erst der Friseur, dann die Apotheke.“
Frank Baranowski, Bürgermeister
„Eigentlich gibt’s nur Schalke und Schrebergärten.“
Ist es wirklich so schlimm?
Gelsenkirchen hat einen Ruf. Nicht nur wegen Schalke, der Fußballkarrieren von Neuer, Özil und Gündoğan. Sondern weil die Stadt mit 260.000 Einwohnern seit dem Herbst „AfD-Hochburg“ genannt wird. Bei der Bundestagswahl schaffte die AfD 17 Prozent der Zweitstimmen.
Wenig Sonne, viele Raucher
Und dann ist Gelsenkirchen für „No-go-Areas“ bekannt. Für seine „Schrottimmobilien“ und „Scheinarbeit“, wie es in der Zeit oder der WAZ stand. Für „Clan-Strukturen“ und einen „Arbeiterstrich“. Für den Rhein-Herne-Kanal, der den wohlhabenderen Norden vom berüchtigten Süden trennt. Für Kinderarmut und eine Arbeitslosenquote von rund 14 Prozent. Für das Zechensterben und stetig verblassende Industrieromantik.
„Diese Melancholie.“
Bei Städterankings schlecht abzuschneiden ist man hier gewohnt. Das Gefühl, in einer Verliererstadt zu leben, vertraut. Einer sagt: „Geht eh allet de Bach runter!“, und einer: „Ah, Platz 401“, als er auf die „Deutschland-Studie“ angesprochen wird, die vor Kurzem erschienen ist: Im Auftrag des ZDF wurden darin sämtliche Regionen der Republik auf ihre Lebensqualität untersucht. Gelsenkirchen wurden unter anderem schlechte Luft und wenige Sonnenstunden attestiert, außerdem die meisten volljährigen Raucher.
Platz 401 war der letzte.
Ist die Stadt ein Sonderfall? Was ist hier los?
Ein bisschen Dolce Vita
Neumarktgasse 1. Elke und Dieter Hanelt sitzen an die Außenwand des „Graziella II“ gelehnt. Jenes Café am Heinrich-König-Platz, in dem die Gelsenkirchener ein bisschen auf Dolce Vita tun, mit Sonnenbrillen „’nen Espresso“ bestellen. Hanelts sitzen so, dass beide „zum Lästern“ auf den „Heinrich“ schauen können: er Jahrgang 1939, mit Jeans und Cola. Sie Jahrgang 1946, mit Cappuccino und rosa Lippenstift. Fast jeden Tag kommen sie her, aus dem Seniorenzentrum um die Ecke. Dieter Hanelt sagt: „Gelsenkirchen war mal eine reiche Stadt.“ Mit den Zechen Hugo oder Bergmannsglück, wegen derer „die Polen“ kamen: „Die waren ganz nett.“
Elke Hanelt sagt: „Gelsenkirchen hat sich verändert.“ 1984 traf sie „Didi“ beim Tanz, sagte „Ich bin frei“ zu ihm, und das Leben in Gelsenkirchen war „ein Traum“. Einer mit Tanzlokalen, mit Kapellen und Krawatten. „Die Mädchen alle in Petticoats.“
Heute würden manche ihrer Freunde die Innenstadt meiden. „Es verkommt viel.“ Elke Hanelt sieht einer Gruppe Männer hinterher, mit dunklem Haar und dunkler Haut. Abends gehe sie ungern alleine raus, sagt sie. Da habe sie mittlerweile Angst. „Verstehen Sie?“
Angst? Wovor?
Gelsenkirchens Geschichte ist eine deutsche, eine der Zuwanderung. Nach dem Krieg suchten Vertriebene ihren Platz in der Stadt, in den Fünfzigern die Gastarbeiter. „Die Polen, Türken, Griechen und Portugiesen“, meint Dieter Hanelt, ohne die aus Gelsenkirchen kein Industriezentrum geworden wäre. Keine „Stadt der 1.000 Feuer“.
Einst ein Drittel größer
1959 kam Gelsenkirchen auf 390.000 Einwohner und war damit ein Drittel größer als jetzt, wo Geflüchtete aus Syrien und dem Libanon hier wohnen und es – so heißt es öfter auf dem „Heinrich“ – vor allem Probleme mit „den“ Rumänen und Bulgaren gebe. „Buntröcke“, sagen manche.
Für Zugewanderte aus Rumänien und Bulgarien gilt seit vier Jahren die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Und seither, heißt es, „kommen sie“. Weil Gelsenkirchens Mieten günstig sind, oft unter fünf Euro pro Quadratmeter liegen. Und weil das „Schrottimmobilien“-Geschäft floriert, bei dem sich „Dealer“ leerstehende Wohnungen in Gerichtsprozessen ersteigern, die sie vorrangig an Migranten aus Südosteuropa vermieten. An so viele, dass manchen gerade ein Matratzenplatz bleibt.
„Wie sich das Stadtbild verändert.“ Elke Hanelt, auf dem Heinrich-König-Platz an die Caféwand gelehnt, lässt den Blick schweifen. Von der Einkaufsmeile links – Backwerk, Deichmann, Kebab Haus – zur katholischen Kirche weiter rechts, neben deren Tor eine Frau kniet und um Kleingeld bittet. „Wir sind ja nicht aus Zucker“, sagt sie. „Aufgewachsen in Trümmern“, sagt er. Trotzdem, sagt sie, vergleichen sie längst: „Wie es früher war und heute. Heute gefällt es mir nicht mehr.“
Ist Gelsenkirchen, Platz 401, ein Brennglas? Eine Stadt, deren Probleme eigentlich die Probleme eines Landes sind – Überalterung, Angst vor Fremden, vor Hartz IV?
Eine, in der sich schärfer als in anderen zeigt, wo Integration stattfinden müsste – wenn sie nicht mehr auf der Arbeit stattfinden kann, weil es wenig Arbeit gibt: auf der Straße. In der City. Auf dem Platz.
„Nichts gegen Ausländer, aber es sind echt kaum noch Deutsche hier.“
„Mit den Türken hat es nie Probleme gegeben. Die sind hilfsbereit.“
„Die sagen hier: Scheißtürken! Und dann gehen sie Döner essen.“
Der Blick aus dem Rathaus
Ebertstraße 11. Hier liegt das Rathaus, das sie renoviert haben, im Stil des „Backsteinexpressionismus“. Runde Ecken, dunkelrote Front. Im Erdgeschoss geht es zum Bürgercenter, dessen Sitzreihen gefüllt sind – und zum Bistro mit Blick auf den Heinrich-König-Platz. Der Bürgermeister setzt sich ans Fenster, sieht raus und sagt: „Früher war der Platz ein stinkendes Loch.“ Eine verwinkelte Bausünde der Siebziger, voller kleiner Treppen und Sträucher. „Im Grunde ein großes Pissoir.“
„Dann kam mein Stadtbaurat und sagte: Was hältst du davon, wenn wir auf das Loch ’nen Deckel machen?“
Frank Baranowski, der Oberbürgermeister, hat auf das Loch einen Deckel gemacht. Er gilt im Pott als Politstar und jenseits von Nordrhein-Westfalen als „einer der klügsten Köpfe der Partei“. Und das, obwohl seine SPD von 44 auf 33,5 Prozent gestürzt ist, sich im Rathaus seit dem Sommer 2015 die Beschwerden über Geflüchtete mehren. Baranowski, schmal, wach, das Jackett über den Bistrostuhl gehängt, sagt: „Darunter Dinge, die man vor zehn Jahren so wahrscheinlich nicht artikuliert hätte: ,Alle am Kragen packen und rauswerfen.'“
Der Bürgermeister lädt das ZDF ein
Baranowski hat einen Plan: Mit dem „Gelsenkirchener Appell“ will er etwas erreichen, das Ökonomen unter dem Begriff „Zweiter Arbeitsmarkt“ zusammenfassen: „etwa Menschen Mitte fünfzig“, die mehrfach ihre Jobs verloren haben, „gesellschaftlich sinnvolle Arbeiten“ verrichten lassen. „Die Frau in der Kita, die das Mittagessen warm macht.“ Der Mann im Stadtquartier, der schaut, wo wieder Müll abgeladen wurde. Dafür bekämen sie wenigstens den Mindestlohn, meint Baranowski. „So tun die Menschen was und bekommen dafür Geld. Anders als jetzt: Sie bekommen Geld fürs Nichtstun.“
Den Appell hat Baranowski „Frau von der Leyen, Frau Nahles und Herrn Heil“ vorgestellt. Er hat eine Stadterneuerungsgesellschaft gegründet, die nach und nach Gelsenkirchens „Schrottimmobilien“ aufkauft, renoviert und zu vermieten versucht. Er hofft darauf, dass die SPD irgendwann wieder „als Kümmerin“ wahrgenommen wird, und darauf, dass man in der Stadt sieht, „wie sich die Lebensqualität ändert, sobald Sie um die Straßenecke fahren“.
Das ZDF lädt er ausdrücklich ein, den Sitz des Senders von Mainz nach Gelsenkirchen zu verlagern. „Das würde uns im Gegensatz zu einer Studie wirklich helfen. Denn was passiert denn bitte schön jetzt?“
Baranowski lächelt, dabei ist ihm nicht zum Lächeln. Eine Sisyphusarbeit sei das! „Du schiebst den Felsen ein Stück hoch und prompt rollt er wieder runter.“
Die Bürger wachküssen
Er glaubt, dass man die Gelsenkirchener wachküssen müsse; ihre Haltung, es werde „schon wer richten“, seit den Bergbauzeiten tief verankert sei. „Damals war alles organisiert, von der Kinderbetreuung bis zum Familienurlaub.“
Aber, na ja, Baranowski sieht auf die Uhr: Die Zahl der Geflüchteten sei nicht wegzureden. „15.000 Zuwanderer und Flüchtlinge in dreieinhalb Jahren“, und die vorrangig im Süden der Stadt. „Wenn Sie mich fragen, was die größte Herausforderung ist, dann das: den sozialen Frieden hinzukriegen.“
Im Süden der Stadt, am „Heinrich“, klingt das so:
„Wo sollen wir denn hin?“
„Dieses Gefühl, dass der Sozialstaat von einer Gruppe ausgehöhlt wird.“
„Die Türken sagen: ,Wir haben doch alles gemacht, was ihr wollt. Geschuftet. Ein Haus gekauft. Den Garten gepflegt. Und jetzt kommen die Syrer und ihr stellt ihnen eine Wohnung!‘“
Auf einer Mauer im Park, hinter dem Rathaus, steht: „Bulgarische Parx“.
Auf dem Schild vor einem Handyshop steht: „INTERNET ZU HAUSE AUCH MIT SCHUFA!“
„Spaß, Alter“
Und hinter dem Heinrich-König-Platz, von dem die Straßen abzweigen wie die Seitenarme bei einem Fluss – im Norden führen sie zum Zoo, im Süden zum Bahnhof, zu Primark und H&M –, stehen Khaled, Erion und Battcel. Vor einer Spielhalle, sie treten von einem Bein aufs andere. Vor, zurück. Sie flippen ihre Feuerzeuge, rrritsch. Sie meinen es nicht so, mehr so als Show. „Spaß, Alter.“
Erion, Narbe auf der Stirn, verkauft dir alles, sagt er. Koks, Gras, Speed. „Mein Gras macht dich fertig.“
Khaled will beweisen, dass er nie Heroin genommen hat. Er zeigt seine Armbeugen. Einstichfrei, beide.
Dass jeder von ihnen im Knast war, sagen sie. „Mit 27 rein, mit 33 raus.“ Standard, sagen sie. „Normal, Alter.“ „Ich war drei Mal“, Erion grinst. „Wir sind Triebtäter, verstehst du? Der Hunger treibt uns dazu.“ – Wozu? – „Waffenhandel, Drogenhandel.“ Battcel kommt ein bisschen nah, plötzlich wird er ernst. „Die Leute schauen mich an, weißt du.“ – Wie? – „Anders, seit die Flüchtlinge da sind. Die halten mich jetzt auch für einen.“
Aber Junge, inschallah, Gelsenkirchen sei ihre Stadt. „Unsere Familien sind hier.“ – „Wir bleiben.“ – „Aus ’m Pott raus geht nicht klar.“
Ist es in München so viel besser?
Es ist, als seien die Gelsenkirchener Partner ihrer Stadt. Manche längst unglücklich mit ihr – aber treu. Wäre es da wirklich soviel besser, in München zu leben?
„Was hilft es jetzt, zu wissen: Wir sind das Schlusslicht?“
„In Berlin müssen Sie mit der U-Bahn fahren, wenn Sie in den Park wollen!“
Während man in Gelsenkirchen in den nächsten Park laufen kann. Mit dem Aufzug den Turm der stillgelegten Zeche „Nordstern“ hochfahren und dann, 83 Meter unter sich, Weite sehen. Grüne Flächen, Halden wie Hobbithügel. Dampfwolken, die wie riesige Zuckerwatten aus Schornsteinen steigen.
Wie die Menschen hier „anna Bude“ sagen, allein. „Et reicht jetzt mit de Sauferei, ich zitter schon.“ Oder: „Ich schmier’ dir gleich de Butter auf de Rücke.“ Dass es zum Fußballstadion die Schalker Meile entlanggeht, auf der sie das eine gelbe Haus mit blauen Farbbeuteln beworfen haben.
Ein Friedhof in Blau-Weiß
Man kann sich in Gelsenkirchen auf einem Schalke-Friedhof mit zwei Torrahmen beerdigen lassen, in den Gräbern stecken blau-weiße Platzreservierungen, „für einen Schalke-Fan“.
Man kann nach Bochum oder Essen fahren, ohne es zu merken. „Pommes Schranke“ bestellen. In Gläser gefüllte Königsberger Klopse finden. Nahe gelegene Orte, deren Namen man nicht mehr vergisst. Hamme, Grumme, Wanne. Werne, Herne, Gerthe.
„Die Stadt kriegt ihr Stigma nicht los.“
„Duisburg ist schlimmer.“
Man wird in Gelsenkirchen selten Leute treffen, die mit Wellensteyn-Jacken durch die Straßen laufen, wie sie das in Hamburg gern tun. Keine, die sich viel selbst feiern, wie etwa in Köln. Keine Massen wie in Neukölln, die sich schwer für einen Lebensstil entscheiden können, weil sie sich so lange in schwarzen Kleidern über Gin Tonics fragen, was nur los ist mit ihnen.
Hier spricht keiner von seinem Projekt
Es scheint fast nicht vorstellbar, dass in Gelsenkirchen jemand diese Sätze sagt, die in Kreuzberg ständig fallen: „Ich arbeite gerade an so ’nem Projekt.“ – „So ’n Freund von mir macht da ’ne Ausstellung.“
In Gelsenkirchen nämlich geht es ums Wesentliche. Dort wird die Sehnsucht nach Einfachheit noch formuliert, frei von der Angst, nicht ausreichend cool oder individualistisch zu wirken. Man trifft überhaupt wenig Menschen, die wirken wollen; die Gelsenkirchener haben anderes zu tun.
Stephan Planz etwa, 46 Jahre. Er macht Mittagspause im „Graziella II“, vor ihm liegt der „Heinrich“. Planz war „den ganzen Vormittag am Laufen“. Die Treppen hoch in die Etagen, die Treppen runter in die Keller. „Wenig Dacharbeit, vor allem Messtätigkeit.“ Er ist Schornsteinfeger, trägt Rußreste im Gesicht. Seit 28 Jahren lässt er, wie vor ihm sein Vater, „die Kugel“ in Gelsenkirchens Kamine. Er sagt: „Früher haben die Leute hier malocht. Heute sind sie meckerig.“ Die Fachgeschäfte seien weg, stattdessen die 1-Euro-Läden da.
Er liebe es trotzdem, mittwochs zum Feierabendmarkt „auf den Platz“ zu gehen. Oder an Neujahr neben dem Bürgermeister für ein Foto zu posieren. „Dass du mir nix Schlechtes über die Stadt schreibst!“
Die Musiktheater, die Seen, die Ü30-Partys
Er zeigt seinen schwarzen Zylinder und setzt ihn auf. Gibt doch so viel: das Musiktheater, die Seen. Die Ü30-Partys, die im Standesamt stattfinden. Und, und, und. Planz erzählt, dass er bei Manuel Neuer die Heizung gemessen hat. Und bei Neuers Mutter.
„Darf ich Sie mal anfassen?“, fragt ihn eine Frau im Café. „Bringt doch Glück, oder?“
Und dann ist da noch Yves.
Yves Eigenrauch. Trägt das „eigen“ im Namen, das ihn in 229 Bundesligaspielen und zwölf Jahren Schalke beliebt gemacht hat. Eigenrauch ist einer, der leise spricht und leise hinterfragt, ein Verzweifler am System. „Yves, wie hälst du das aus?“ heißt der Song, den ihm die Band Tomte vor Jahren gewidmet hat. Das „hälst“ im Titel so falsch geschrieben wie bezeichnend: Wie wahrscheinlich war es, dass „Yyyyyves“, wie ihn die Fans im Stadion riefen – einer, der las und für die taz Kolumnen schrieb –, in den Fußballbetrieb passte?
Das Sein und die Welt
Yves also ist mit dem Rad zum „Heinrich“ gekommen. Glatze, Hornbrille, ausgewaschene Cordhose – ein Typ wie Thomas D. Er hat die Beine auf einer Bank gegenüber der Kirche überschlagen und sagt: „Sachen gibt’s“, als dort die Ministranten einziehen und eine Kapelle spielt – lautlos, weil nebendran Männer mit Laubbläsern über den Platz dröhnen.
Wenn Yves erzählt, dann wenig über Fußball und viel über das Sein und die Welt. Davon, dass er lange gern in Gelsenkirchen gelebt hat und jetzt gern in der Nähe lebt, zurückgezogen, er braucht das so.
Er erzählt, dass er als Jugendlicher ein rosarotes Bild davon im Kopf hatte, was es heißen würde, Profispieler zu sein. Dass es jenes Bild nicht mehr gab, als er selbst einer war; seine Unbeschwertheit endete, mit 22, 23, vielleicht auch schon bei der Bundeswehr.
Yves sagt dann, dass es in Gelsenkirchen viele schöne Altbauten gibt, aber Schönheit eine Frage der Betrachtung sei. Dass die Gesellschaft ein Problem mit der Betrachtung habe, dieses Stürzen vom Einen zum Nächsten. Dass es eigentlich einen Bürgerkrieg geben müsste, hätten die Leute wieder Zeit zum Denken. Oder aber lauter Depressive.
Yves Eigenrauch zuhören
Es ist dann, als hörte man Yves Eigenrauch beim Denken zu:
„Wenn man hier durch die Straße geht, da wundert man sich, klar: Wo bin ich eigentlich? Ist das noch meine Stadt?
Und das ist für viele ein Problem. Die Älteren fühlen sich ja teilweise nicht mehr wie in Deutschland. Keine Ahnung, warum es immer ein Gegeneinander ist und seltenst ein Gemeinsam. Wahrscheinlich liegt das in der Natur des Menschen: Dieses instinktiv Animalische, für sich zu sorgen. Zu schauen, dass man selbst über die Runden kommt.
Keine Ahnung, wofür es Klassifizierungen braucht. Eine Studie des ZDF. Wie hat man das früher genannt – Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, ABM? Ist das für Unternehmen hilfreich? Um große Projekte zu planen und 500 Mitarbeiter zu holen? Damit die Dortmunder jetzt sagen können, hehe, die Gelsenkirchener sind die Scheißigsten?“
Das Klischee übrigens, dass im Pott alles trist sei, schmöddelig und grau – Yves lacht.
„Ach ja.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt