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Lebensanker Kunst

■ Eine Lesung des Tagebuchs von Martha Glass aus dem KZ Theresienstadt

Lageralltag voll Willkür, Terror und Tod: Martha Glass, die im Juli 1942 mit 800 anderen Hamburger Jüdinnen und Juden nach Theresienstadt deportiert wurde, schrieb darüber in drei kleinen Oktavheften Tagebuch. Theresienstadt, das den Nationalsozialisten als Vorzeige-KZ diente, war Durchgangsstation für Juden und Jüdinnen in die Vernichtungslager. Aber auch in Terezin, so der tschechische Name, starben täglich 150 Menschen an Krankheit, Verletzungen oder methodischer Auszehrung.

Martha Glass schreibt über ihr wichtigstes Interesse: Essen. Diversen Rezepten folgen Angaben über Päckcheninhalte, die leider bedingt durch ihre Unterernährung und die Zwangsarbeit unangenehme Folgen hatten: „3. Januar 45: Seit gestern liege ich mit einem schweren Magen- und Darmkatarrh und dem entsetzlichsten Sodbrennen. Ich habe wohl aus dem Päckchen zu viel des Guten getan, was mein geschwächter Körper nicht mehr verträgt.“ Ein Hungertrauma quälte sie, die überlebte, auch im späteren Leben noch.

Der zweite Glücksstrohhalm, der wesentlich zu ihrem Überleben beitrug, galt den Konzerten und Theaterveranstaltungen, die zu Propagandazwecken hier gefördert wurden. Von Juni 43 bis März 45 besuchte sie, die sich selbst als Künstlerin verstand, 22 Veranstaltungen zu Literatur, Musik und Theater. Die Rollen waren zumeist doppelt besetzt, wegen möglicher Deportationen. Gegen Resignation und Selbstaufgabe und die inhumane Realität bot die Kunst einen ambivalenten Freiraum, der für die, die ihn nutzten, lebenserhaltende Bedeutung bekam.

Durch die vermeintliche Großzügigkeit der SS entstand in der Weltöffentlichkeit der verfälschende Eindruck, Theresienstadt „wäre nicht so schlimm gewesen“. Trotzdem blieb die „Erleichterung“ durch die Kunst geistige Basis für das Überleben, denn wer „einmal Kultur in sich verwirklicht hat, arbeitet an ihr fort. Ein solcher Mensch behauptet sich in Theresienstadt.“

Ihre Töchter haben nun die Tagebücher zur Veröffentlichung freigegeben. Barbara Müller-Wesemann ist die Herausgeberin von Jeder Tag in Theresin ist ein Geschenk (Landeszentrale für politische Bildung). Sie fügte noch einen dichten Informationsteil an.

Martha Glass lebte später in den USA. Sie besuchte Hamburg nur noch einmal. Befangenheit und Schuldgefühle der Hamburger ließen keinen ungezwungenen Umgang zu. Ein Leben in Deutschland konnte sie sich nicht mehr vorstellen. Ihr Tagebuch ließ sie bis zu ihrem Tod niemand lesen.

Kerstin Kellermann

Lesung: So, 22. September, Kammerspiele, 11 Uhr

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