: Langsame Heimkehr
Renate Walls „Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil“macht sich um zu Unrecht vergessene Autorinnen verdient ■ Von Wilfried Weinke
Canetti – eine Frau?
Wer kennt schon die 1963 verstorbene Veza Canetti, die im November 1938 gemeinsam mit ihrem Mann Elias erst nach Paris, dann nach England emigrierte. Ihre ersten Kurzgeschichten konnte die gebürtige Wienerin noch in der dortigen Arbeiter-Zeitung veröffentlichen. Die politischen Ereignisse der Jahre 1933/1934 verhinderten jede weitere Publikationsmöglichkeit für die Jüdin und überzeugte Sozialistin. Ihre Werke, wie der Roman „Die Gelbe Straße“ (1989), das Schauspiel „Der Oger“ (1990), die Erzählungen „Geduld bringt Rosen“ (1991), erschienen allesamt posthum. Die frühen Romane sind verschollen oder blieben unveröffentlicht.
Wie Veza Canetti erging es vielen Autorinnen nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten. Die Osnabrücker Lehrerin und Publizistin Renate Wall ist in mehrjähriger Recherche ihren – notgedrungen – verschlungenen Pfaden nachgegangen. Das Ergebnis, ein zweibändiges „Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933 bis 1945“, liegt nun vor. Die Herausgeberin präsentiert 203 Schriftstellerinnen, deren Werke verboten wurden, die in Konzentrationslagern ihr Leben ließen, ins Exil gingen, dort erst zu schreiben begannen oder verstummten, die zurückkehrten oder im Exilland blieben.
Sicher, die Namen von Vicki Baum, Hilde Domin, Marieluise Fleisser, Irmgard Keun, Else Lasker-Schüler, Erika Mann, Anna Seghers klingen vertraut. Aber was ist mit Else Feldmann, Karen Gershon, Anna Maria Jokl, Lu Märten, Lenka Reinerová, Ruth Rewald, Lessie Sachs und Christa Winsloe? In den seltensten Fällen haben ihre Bücher Eingang in den literarischen Kanon gefunden.
Unter den Entwurzelten im Exil, die sich in einer fremden Sprach- und Kulturwelt durchschlagen mußten, waren es zumeist die Frauen, die sich als die Lebenstüchtigeren erwiesen. Sie waren sich nicht zu schade, Arbeiten „unter ihrem Stand“ anzunehmen, als Abwäscherin, Kinderpflegerin, als Küchenhilfe oder Verkäuferin. Darauf bezieht sich das geflügelte Wort der Exilforschung: „Im Exil lebte man von der Hand in den Mund: von ihrer Hand in seinen Mund!“ Es waren die Frauen, die ihre literarischen Karrieren unterbrachen oder aufgaben, um Ehemänner und Familien durchzubringen. Doch damit nicht genug: Nach Publikationsverbot, Verbrennung der Bücher und Ausbürgerung setzte sich der bewußte Verdrängungsprozeß nach 1945 fort. Die politische Frontstellung im Kalten Krieg und die kollektive Amnesie haben aus vielen jüdischen und vielen politisch- engagierten Schriftstellerinnen, zumindest in einem Teil Deutschlands, literarische Nobodys gemacht.
Renate Wall und die fünfzehn weiteren Autoren, die Einzelbeiträge verfaßten, liefern mit der Rekonstruktion der Schicksale zahlreiche traurige Beispiele. So erinnert Renate Wall an Gertrud Käthe Chodziesner, die unter dem Pseudonym Gertrud Kolmar veröffentlichte. Die gebürtige Berlinerin, aus großbürgerlich-jüdischem Milieu stammend, publizierte 1917 mit 23 Jahren ihre ersten Gedichte. Noch 1938 erschien ihre Gedichtanthologie „Die Frau und die Tiere“. Gertrud Käthe Chodziesner emigrierte nicht. Im Rahmen der sogenannten „Fabrikaktion“ wurde sie mit anderen jüdischen Zwangsarbeiterinnen verhaftet und im Februar 1943 nach Auschwitz deportiert.
Dirk Krüger skizziert das kurze Leben der 1906 ebenfalls in Berlin geborenen Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald. Vor 1933 erschienen die Bücher „Rudi und sein Radio“ sowie „Müllerstraße – Jungens von heute“. Das für Weihnachten 1933 geplante Buch „Achtung, Renate“ blieb unveröffentlicht. Im französischen Exil schrieb sie das Jugendbuch „Janko. Der Junge aus Mexiko“. Ein weiteres Buch mit dem Titel „Tsao und Jing-Ling – Kinderleben in China“ fand keinen Verleger, wurde aber 1937 als Fortsetzungsgeschichte in einer Schweizer Gewerkschaftszeitung gedruckt.
Als ihr Mann, der Rechtsanwalt Hans Schaul, sich den Internationalen Brigaden anschloß, verarbeitete sie Erfahrungen und Erlebnisse ihres Aufenthalts in Spanien in dem Manuskript „Vier spanische Jungen“. Der Einmarsch deutscher Truppen in Frankreich verhinderte dessen Drucklegung. Im Juli 1942 fiel Ruth Rewald in die Hände der Gestapo. Sie wurde nach Auschwitz deportiert, zwei Jahre später auch die erst sechs Jahre alte Tochter. Der Initiative Dirk Krügers ist es zu verdanken, daß „Vier spanische Jungen“ 50 Jahre nach seiner Entstehung erstmals als Buch erscheinen konnte. In dem übersichtlich gestalteten, größtenteils mit leider viel zu kleinen Fotos versehenen Lexikon stellt Renate Wall die unterschiedlichsten Persönlichkeiten vor, sei es die Wiener Schriftstellerin Else Feldmann und ihre sozialkritischen Reportagen und Bücher, sei es Helen Hessel, deren Dreiecksbeziehung Truffauts „Jules et Jim“ zur Grundlage diente.
Ganz und gar verschollene Autorinnen werden hier dem Vergessen entrissen. Etwa Lisa Tetzner, Verfasserin der neunbändigen Kinderodyssee „Die Kinder aus Nr. 67“, oder Alex Wedding, Pseudonym für Grete Weiskopf, die 1931 mit ihrem Jugendbuch „Ede und Unku“ auf sich aufmerksam machte.
Auch an Karen Gershon ist gedacht worden, die per Kindertransport aus Deutschland entkam. Ihre repräsentative Autobiographie der ehemaligen Kinderflüchtlinge, schon 1966 in England veröffentlicht, erschien unter dem Titel „Wir kamen als Kinder“ in Deutschland erst 1989!
Dieses Lexikon zeichnet sich dadurch aus, daß es nie langweilig wird, in ihm zu blättern und zu stöbern. Sämtlichen Porträts merkt man bei aller Sympathie die Sorgfalt an. Und so sind echte Entdeckungen zu machen: Wer kennt schon das schmale Werk der Ruth Tassoni, die nach der Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg, dem Exil in Frankreich und den USA in Italien lebte und im November 1994 in Bergamo starb? Ihre Erzählungen, mittlerweise allesamt im Zürcher pendo-Verlag erschienen, sind überaus lesenswert.
Renate Wall: „Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933 bis 1945“. Zwei Bände, Kore-Verlag, 540 Seiten, 58 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen