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Foto: Jens Jeske

Landtagswahlen in BrandenburgTochter Courage

Die SPD in Brandenburg war mal eine Macht. Das lag auch an Regine Hildebrandt. Nun kämpft ihre jüngste Tochter Elske um ihr Erbe – und die Demokratie.

Anna Lehmann
David Muschenich
Von Anna Lehmann und David Muschenich aus Strausberg/gotha

W ie muss man sich einen AfD-Wähler in Brandenburg vorstellen? Vielleicht so: männlich, Mitte 40, mit Brille und T-Shirt, an der Leine einen Yorkshire-Terrier mit Thermo­decke. Der Terrier pinkelt an einen Stromkasten, als die Frau von der SPD sich nähert. „Kann ich Ihnen mal eine Information geben“, sagt sie und hält ihm einen roten Flyer hin. Nee, sagt der Mann, er habe schon gewählt. „Ach so. Und gibt es sonst was, was Se beschwert?“, fragt die SPD-Frau. Sie sei nämlich die örtliche Landtagsabgeordnete. „Elske Hildebrandt mein Name.“

„Ja“, sagt der Mann und wendet sich nun Hildebrandt zu. „Die ganze Politik, die nervt mich“ – „Wat meinen Sie denn konkret, was Sie nervt?“, will Hildebrandt wissen. „Na die Migration“, sagt der Mann. Er bleibt stehen, der Terrier macht Platz. Herrchen will reden. „Wissen Sie, die ganzen Ausländer. Die, die sooon Strafregister haben, die dürfen bleiben. Und die, die jeden Tag fleißig zur Arbeit gehen, die werden abgeschoben.“ – „Das finde ich ja interessant, Sie finden also, die Falschen werden abgeschoben. Die sollten eigentlich bleiben?“, hakt Hildebrandt nach. Der Mann nickt. „Genau. Aber manche müssen doch nur ’ne Straftat begehen, und wissen, die dürfen bleiben. Die lachen uns doch aus.“ Er schüttelt den Kopf.

Und dann entspinnt sich ein längeres Gespräch. Zwischen dem Mann, der als Polizist in Berlin arbeitet, wie sich herausstellt, und Elske Hildebrandt, der Direktkandidatin im Wahlkreis Märkisch Oderland II. Zwei Gemeinden und die Stadt Strausberg, wo sie gerade unterwegs ist, gehören dazu.

Es ist ein Dienstag, Anfang September, bis zu den Landtagswahlen sind es noch knapp drei Wochen. Die SPD will erneut stärkste Kraft werden und wieder den Ministerpräsidenten stellen, der seit 2013 Dietmar Woidke heißt. Seit 35 Jahren ist Brandenburg fest in sozialdemokratischer Hand. Doch die Stimmung hat sich gedreht. Seit Monaten führt die AfD in Umfragen. Und das, obwohl Brandenburg unter den 16 Bundesländern inzwischen das zweithöchste Wirtschaftswachstum verzeichnet.

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Die goldenen Zeiten für die Brandenburger SPD waren die 90er. Wirtschaftlich schwierige Zeiten. Hunderttausende ehemalige DDR-Bürger hatten innerhalb weniger Monate ihre Arbeit verloren; versuchten, mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Umschulungen Fuß zu fassen in der Bundesrepublik. Den Sozialdemokraten trauten viele damals zu, sie durch diese Zeit zu führen. Und das lag auch an Regine Hildebrandt, die damals als Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen für den Erhalt von Arbeitsplätzen und Polikliniken kämpfte. „Mutter Courage des Ostens“, so der etwas pathetische Spitzname.

Die Frau mit dem blonden Kurzhaarschnitt und der offenen, direkten, zuweilen schroffen Art war über die Grenzen des Bundeslandes bekannt und beliebt. 1999 trat sie zurück, aus Protest gegen eine Große Koalition mit der CDU. 2001 starb sie an Krebs. Heute sind Schulen und Parks nach ihr benannt, die SPD vergibt jährlich den Regine-Hildebrandt-Preis

Elske ist Hildebrandts jüngste Tochter. Dass sie heute Abgeordnete ist, verdankt sie ihr – und Donald Trump. Politisch aktiv sei sie schon immer gewesen, erzählt Hildebrandt in ihrem Bürgerbüro am Bahnhofsplatz von Strausberg. Und SPD-nah ja sowieso. Aber nie Parteimitglied. „Das ist wie beim Heiraten. Es gab einfach keinen Grund, in die Partei einzutreten.“

Bis Donald Trump 2016 die Wahl in den USA gewann. „Ich dachte, ach du Scheiße, wie konnte das passieren.“ Also wurde die studierte Archäologin und freiberufliche Kita-Sprachberaterin mit 42 Jahren SPD-Mitglied. Um der Demokratie willen. Und dann fragte der Ortsverein, ob sie Gemeindevertreterin werden wolle. Sie sagte Ja. Und dann fragten die Genossen, ob sie für den Landtag kandidieren wolle. „War nie mein Plan. Aber ich konnte ja schlecht, in einer Situation, in der die AfD bei uns nahe dran war, stärkste Kraft zu werden, Nein sagen.“ Sie habe schließlich eine Verantwortung. „Ich weiß, dass ich mit Muttis Namen und dem, wofür Mutti stand und was mich geprägt hat, bei den Leuten noch durchdringe.“

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Auch der Mann mit dem Terrier erinnert sich an Regine Hildebrandt. „Ihre Mutter war echt ’n Unikum. Die hatte so ’ne Kodderschnauze“, sagt er und nickt anerkennend.

Wenn Hildebrandt spricht, dann denkt man gleich an ihre Mutter. Wie diese, redet sie gerade heraus, im brandenburgischen Berliner Dialekt.

Vor fünf Jahren gewannn Elske Hildebrandt auf Anhieb das Direktmandat vor dem AfD-Kandidaten. Sie wurde Mitglied im Sozialausschuss und im Bildungsausschuss. Setzte sich für eine auskömmliche Finanzierung von Kitas ein und für den Erhalt von Sozialarbeiterstellen an Schulen.

Diesmal könnte es knapp werden. Auch andere, darunter die Linken-Politikerin Kerstin Kaiser, werben um Erststimmen. Strausberg war früher mal eine Hochburg der PDS. Hinzu kommt: Die 25 Sitze, die die SPD im Landtag hat, wurden 2019 alle nach Direktmandaten vergeben. Falls es also diesmal nicht fürs Direktmandat reicht, wäre Hildebrandt wohl trotz Listenplatz draußen. Sie sei auch bereit abzutreten, sagt sie. „Was mir wirklich Kopfschmerzen bereitet: dass die von der Linken und icke uns gegenseitig die Stimmen wegnehmen und der Kandidat von der AfD dann deshalb gewinnt.“

Wir haben das flache Land verloren, sagt Sozialdemokrat Hey. Teilweise gebe es weder Jusos noch Ortsvereine

Dass die AfD selbst in einstigen SPD-Hochburgen gewinnt, hat Matthias Hey erfahren. Der Thüringer SPD-Politiker holte dreimal hintereinander das Direktmandat in Gotha, der Stadt, in der er aufwuchs, seine Ausbildung zum Drucker machte und bis heute lebt. Im September verlor er mit 27 Stimmen gegen den AfD-Kandidaten. In Gotha kennt man diesen kaum, im Kreistag, wo er Mitglied ist, fehlte er bei 16 von 30 Sitzungen.

Warum verliert selbst ein Lokalmatador gegen einen No Name von der extremen Rechten? Da ist im Fall von Hey wohl seine Krebserkrankung, die er öffentlich machte. Sicherheitshalber trifft er kaum Menschen. Doch kurz vor der Wahl hieß es in Chatgruppen und auf Social Media: Hey liege schon im Hospiz, eine Stimme für ihn sei verschwendet. Die Falschmeldung verbreitete sich schnell, seine Mutter und sein Arzt seien darauf angesprochen worden, berichtet Hey. So gesehen sei es sensationell, dass er nur so knapp verloren habe. Doch die eigentlichen Gründe liegen tiefer.

„Wir haben das flache Land verloren“, sagt Hey. Teilweise gebe es weder Jusos noch Ortsvereine, die SPD sei „de facto nicht mehr vorhanden“.

In Brandenburg ist die SPD kaum besser aufgestellt, der Landesverband zählt 5.800 Mitglieder, immerhin 2.300 mehr als in Thüringen. Doch auf 430 Einwohner kommt gerade mal eine GenossIn.

Auch Elske Hildebrandt betreut als Abgeordnete zwei Wahlkreise. Hinter dem Bürgerbüro parkt ihr Skoda. Die Rückbank ist runtergeklappt, im Kofferraum liegen Plakate, Kabelbinder und eine Leiter. Auf einigen Plakaten ist ihr Gesicht ausgeschnitten, das sind die Plakate, die sie wieder abgenommen hat. „Wer macht so was? Voll psycho.“ Sie wirft noch einen Packen Flyer und Aufkleber in den Kofferraum und klappt ihn zu. Setzt sich hinters Steuer. Auf geht’s.

In Dresden verprügelten rechtsextreme Jugendliche im Mai den SPD-Kandidaten für die Europawahl, Matthias Ecke, als er Wahlplakate aufhängte. Fühlt sich Elske Hildebrandt auf der Straße unsicher? Sie sei nie allein unterwegs, sagt Hildebrandt. Manchmal kommen Freunde mit oder Mitglieder der Ortsvereine, zuweilen auch ihr über 80-jähriger Vater. Bedroht worden sei sie noch nicht, beschimpft schon. Es gebe aber auch viele nette Gespräche. „Manche Menschen bedanken sich sogar, wenn ich ein Plakat vor ihrem Haus aufhänge und da nicht nur die AfD hängt.“

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Gegenüber einer Schule parkt sie. Hier wollte sie schon lange ein Plakat aufhängen. „Da unter den AfD-Mann passe ich noch hin.“ Sie klappt die Leiter aus und befestigt das Plakat mit Kabelbindern. Manchmal frage sie sich, wie sinnvoll das sei, sagt sie, als sie wieder ins Auto steigt. Um sich dann selbst Mut zuzusprechen: „Plakate sind wichtig.“ Das sei wie ein Kampf der Farben. „Jeder markiert sein Revier.“ In der Schule werde sie am Wochenende bei einer Berufsmesse sein, sagt sie.

Linke Po­li­ti­ke­r:in­nen haben es allgemein gerade schwer bei Jugendlichen. Bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen wurde die AfD unter den 18- bis 24-Jährigen mit Abstand stärkste Kraft. In Brandenburg droht ein ähnliches Szenario. Warum laufen so viele junge Leute den extrem Rechten hinterher?

Die Leute freuten sich, sagt Elske Hildebrandt, wenn sie auch mal etwas anders als ein AfD-Plakat sehen Foto: Anna Lehmann

Eine Frage, die auch den SPD-Co-Vorsitzenden im Bund, Lars Klingbeil, umtreibt. Er trifft sich im September mit Brandenburger So­zi­al­ar­bei­ter:in­nen in einem Jugendtreff in Königs-Wusterhausen. Sie berichten von ihrer Wahl-O-Mat-Tour im Landkreis, vor Schulen und auf öffentlichen Plätzen. Ein Angebot, um mit Jugendlichen unverkrampft über Parteiprogramme zu diskutieren.

Da sei zum Teil erschreckend wenig Wissen über Politik vorhanden, erzählen die Sozialarbeiter:innen. Viele Schü­le­r:in­nen könnten mit Abkürzungen wie SPD oder CDU nichts anfangen. „Die AfD ist die einzige Partei, die sie kennen. Und zwar von Tiktok.“ Auf deren Beiträge, die an Männlichkeit und Gemeinschaftsgefühl appellierten, sprängen auch Jugendliche mit Migrationsgeschichte an.

Und außerhalb des Internets gebe es dann nicht viel mehr. „Auf den Dörfern trifft man noch drei Institutionen an: die Feuerwehr, Fußball und die AfD.“ Demokratische Parteien seien schon seit Jahren auf dem Rückzug. „Wenn ihr denen den Boden überlasst, dann müsst ihr euch nicht wundern“, sagen die So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen zum SPD-Chef.

Lennox Doernbrack und Mareike Engel sind beide bei den Jusos – er in Brandenburg, sie in Sachsen. Beide sind in ländlichen Gebieten aufgewachsen. Doernbrack hat in diesem Jahr Abi gemacht. Viele seiner Kumpels ziehe es nach der Schule in westliche Bundesländer, erzählt er. Die Unis im Westen seien renommierter, Löhne und Ausbildungsvergütung höher. „Vor Ort, da gibt’s nicht viel für junge Leute, außer ’ne Simme vor der Tür.“ Die Simson, das DDR-Moped, ist Kult. Auch die AfD nutzt das. Der rechtsextreme Thüringer Parteichef Björn Höcke lud Ende August zum Simson-Corso ein. 100 Leute tuckerten ihm hinterher.

„Bei uns in der Lausitz, da gibt’s für junge Leute nichts, keine Jugendtreffs und keine guten Ausbildungsplätze“, bestätigt Engel. „Wer kann, zieht in die Städte oder geht in den Westen.“ Sie selbst studiert in Leipzig.

Die Umfragen vor dem Wahlsonntag

Das Duell Die AfD liegt in Umfragen vor dem Wahlsonntag am 22. September knapp vor der SPD. Laut einer Befragung der Forschungsgruppe Wahlen kommen die Rechten auf 29 Prozent, die SPD kommt auf 26 Prozent. CDU (15 Prozent) und das Bündnis Sahra Wagenknecht (14 Prozent) folgen dahinter. Die Grünen wären laut dieser Umfrage mit 5 Prozent knapp im Landtag vertreten. Laut einer weiteren Umfrage von Infratest dimap, die die AfD bei 27 Prozent und die SPD bei 26 Prozent sieht, konnten die Sozialdemokraten zuletzt aufholen und seit Anfang September 3 Prozentpunkte zulegen. Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) hat seine politische Zukunft an einen Wahlsieg seiner Partei geknüpft.

Und dann sind da die sozialen Medien. Viele Jugendliche würden sich nur noch über Tiktok informieren und gerade die AfD liefere dort „richtig greifbaren Content“, sagen die beiden. Wenn die SPD ihre Anliegen jugendgerechter vermitteln würde und Funktionäre nicht nur peinliche Interviews gäben, dann könnten sie besser durchdringen, meinen beide. Wen sie da konkret meinen? Schulterzucken. „Alle eigentlich.“

Dort, wo Elske Hildebrandt ihre Plakate aufhängt, ist an diesem Vormittag ebenfalls tote Hose. Petershagen ist eine Einfamilienhaussiedlung, die Häuschen ducken sich hinter Buchsbaumhecken entlang einer schnurgeraden Hauptstraße. Kein Mensch zu sehen. Hildebrandt parkt und steigt aus. Sie schnappt sich die Leiter und einen Packen Aufkleber. „Manuela Schwesig kommt“ steht drauf. Sie hat die Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns zum Bürgergespräch zu sich nach Strausberg eingeladen.

Hildebrandt klappt ihre Leiter an einem Laternenmast aus. Dort hängen bereits SPD-Plakate mit Dietmar Woidke. Sie pult die Folie von einem der „Schwesig kommt“-Aufkleber, reckt sich und klebt ihn vorsichtig auf. Hält sich dabei am Plakat fest. „Wie oft ich mich in den letzten Wochen schon an Woidkes Brust geschmiegt habe“, murmelt sie. Es sieht tatsächlich so aus, als umarme sie den Ministerpräsidenten.

Der will die Berliner Politik am liebsten aus dem Wahlkampf raushalten und geht auf maximale Distanz. Woidke setzt ganz auf sich und seine Popularität. Kundgebungen mit dem Kanzler, der ja immerhin in Potsdam wohnt? Sind nicht gewünscht. Bloß nicht reinziehen lassen in den Abwärtsstrudel der SPD-geführten Ampel. Einer Umfrage zufolge sind nur noch drei Prozent der Deutschen zufrieden mit der Ampel, die schlechteste Bewertung seit Amtsantritt.

Aber sich deshalb im Wahlkampf abwenden? Hildebrandt findet das opportunistisch. Gerade weil so viele Leute unzufrieden sind, sei es nötig, zu reden. „Also, wenn Olaf Scholz gesagt hätte, er will nach Strausberg kommen, hätte ich gesagt: Komm her, lass uns diskutieren.“

Elske, 30 Jahre nach der Einheit, das spaltet doch nur, habe man ihr gesagt, wenn sie die soziale Ungleichheit zum Thema machen wollte

Die Bundespolitik überwölbt den Wahlkampf. Neben dem Thema Migration sind es der Ukrainekrieg und die deutsche Unterstützung für das Land. „Das bewegt die Menschen sehr. Wir werden als Kriegstreiber und Volksverräter und was weiß ich beschimpft“, sagt Hildebrandt.

Das hat auch Matthias Hey in Thüringen erfahren. „Was glauben Sie, was ich da in den letzten vier Wochen gehört habe?“, fragt er und antwortet in der nächsten Sekunde selbst: Man wolle ja eigentlich SPD wählen, aber „diese blöde Geschichte mit den Mittelstreckenwaffen“ oder der Koalitionskrach mit den Grünen und der FDP, „das holt einen alles ein“.

Als Ministerpräsidentin Schwesig zwei Tage später am Bahnhofsplatz in Strausberg tatsächlich mit Hildebrandt und knapp 30 interessierten Bür­ge­r:in­nen diskutiert, ist die erste Frage – na klar, eine außenpolitische. Ein älterer Mann in Jeansjacke stemmt sich von der Bank hoch und gratuliert Schwesig zu ihrer tollen Ausstrahlung. „Sie könnten Bundeskanzlerin werden.“ Die lacht, dann setzt sie schnell nach, ihr Platz sei in Mecklenburg-Vorpommern. Sind ja schließlich Me­di­en­ver­tre­te­r:in­nen da, nicht dass die denken, die Palastrevolte gegen Olaf Scholz habe bereits begonnen. Denn besonders in den hinteren Reihen der SPD regen sich zunehmend Zweifel, ob der amtierende Kanzler auch der richtige zukünftige Kanzlerkandidat ist.

Der Mann will aber eigentlich wissen, wie Schwesig zu der ganzen Aufrüstung stehe, und dazu, dass jetzt amerikanische Raketen in Deutschland stationiert werden sollen. Er findet, man müsse auch mal wieder mit Russland reden. Schwesig gibt ihm recht, kritischer Diskurs: Ja. Dann verteidigt sie aber den Kanzler. Sie wundere sich, dass alle über ihn herfielen: „Der haut nicht irgendwas raus“ und habe auch mehrfach mit dem russischen Präsidenten Putin telefoniert. Aber es seien nun mal russische Raketen auf Deutschland gerichtet. Sie vertraue der Bundesregierung, die besonnen reagiere.

Nun grätscht Hildebrandt dazwischen. „Ich finde, dass mit der Stationierung ganz, ganz schwierig.“ Sie sei, wie viele Menschen, völlig überrascht worden von Scholz’ Ankündigung. „Wie kann das sein, dass in Deutschland ohne Diskussion Langstreckenraketen stationiert werden?“

Elske Hildebrandt ist überzeugt, dass Deutschland die Ukraine unterstützen muss. Sie selbst hat gleich zu Beginn des Krieges zwei ukrainische Frauen und ihre Kinder bei sich zu Hause aufgenommen. Aber dass jetzt Drohnen in Moskau einschlagen würden: „Nee, das kann’s doch auch nicht sein.“

Damit spricht sie vielen Menschen im Osten aus dem Herzen. Anders als in den westlichen Bundesländern sieht die Mehrheit der Menschen hier Waffenlieferungen kritisch und wünscht sich Gespräche auch mit Putin. Das Bündnis Sahra Wagenknecht, das die Frage schnöde runterbricht auf „Krieg oder Frieden“, profitiert von der Lücke, die die SPD lässt. Bei der Europawahl verlor die SPD eine halbe Million Wählerinnen an das BSW.

Dass Scholz nun angekündigt hat, man brauche bald eine Friedenskonferenz, bei der Russland mit am Tisch sitzt, mag vor allem wahltaktischen Überlegungen geschuldet sein. Vielleicht lässt sich das Thema vor der Wahl in Brandenburg abräumen.

Über die Unterschiede zwischen Ost und West haben lange Zeit nur Ostbeauftragte und die PDS gesprochen. Seit einiger Zeit ist der Osten wieder bundesweit ein Thema. Seitdem die AfD hier einen Wahlerfolg nach dem anderen erzielt, fragen sich viele: Weshalb? Ist es die Diktatursozialisierung? Oder der Freiheitsschock?

Das Thema Ungleichheit nicht der AfD überlassen

Hildebrandt hat eine andere Erklärung. „Ob Vermögen, Immobilien, Tariflöhne – da ist immer die Karte der DDR. Und dann muss man sich nicht wundern, wenn die blaue Karte eben auch die DDR ist.“ Erstaunlich sei eher, dass es 30 Jahre gedauert habe, bis die Auswirkungen der ungleichen Vereinigung so sichtbar würden. Auch die SPD habe das Thema lange liegen gelassen, findet sie. Niemand habe das mit ihr „groß beackern“ wollen: „Elske, 30 Jahre nach der Einheit, das spaltet doch nur“, habe man ihr gesagt. Aber die Spaltung sei ja da. Man dürfe das Thema nicht nur denen überlassen. Der AfD.

Was gegen die Blauen hilft? „Miteinander reden, diskutieren“, ist Elske Hildebrandt überzeugt. „Vor Ort zu sein. Ins Gespräch zu gehen.“ Deshalb holt sie an dem Septembertag, nachdem sie die Plakate aufgehängt hat, noch eine Kiste mit Flyern raus und steckt sie in die Briefkästen. Auch dort, wo „Keine Werbung“ steht. Wer meckert, dem antwortet sie: „Dit ist politische Information.“

Und so trifft sie eben den Mann mit dem Hund. Der irgendwann gesteht, auch er habe AfD gewählt. „Warum wählt jemand, der so differenziert denkt wie Sie, ’ne Partei, die spaltet, die faschistisch ist, die verfassungswidrig ist“, will sie von ihm wissen. Eine Partei, die im Landtag beantragt hat, Geflüchtete und Ukrai­ne­r:in­nen von öffentlichen Veranstaltungen auszuschließen. Der Mann lächelt entschuldigend. Na, irgendeine Partei müsse ja mal anfangen, das Problem mit der Migration zu lösen. Hildebrandt bedankt sich bei ihm, für das gute Gespräch. Dann geht sie, der Mann bleibt unschlüssig stehen. Es wirkt, als würde er gerne noch länger reden.

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4 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Ich habe großen Respekt vor Frau Hildebrandt und allen, die sich gegen den rechten Mainstream politisch engagieren.



    In einem Punkt möchte ich ihr aber widersprechen. Sie sagt:

    „Ob Vermögen, Immobilien, Tariflöhne – da ist immer die Karte der DDR. Und dann muss man sich nicht wundern, wenn die blaue Karte eben auch die DDR ist.“

    All das wären Gründe, links zu wählen. Dafür, nach unten zu treten, wenn man sich benachteiligt fühlt, gibt es keine Entschuldigung.

  • Ich weiß es noch wie heute: 1993 (oder war’s 1992?) bin ich mit einem blamabel kleinen Häuflein Jusos - immerhin war bundesweit mobilisiert worden - anlässlich einer Sitzung des SPD-Vorstandes vor der Parteizentrale gesessen, um gegen den Asylkompromiss meiner damaligen Partei mit der Union zu protestieren. ALLE angereisten Parteigranden sind damals ignorant-arrogant über die Demonstrierenden hinweg gestiegen, um möglichst schnell zu ihrer Sitzung zu gelangen.



    Nur eine nicht: Regine Hildebrandt! Die ist stehen geblieben und hat sich Zeit genommen, um mit der kleinen, vorm Eingang sitzenden Gruppe tatsächlich zu diskutieren. Nicht viel später habe ich übrigens mein Parteibuch abgegeben.



    Wenn die Enkelin genau so couragiert ist wie ihre respektable Grandma, wünsche ich ihr Glück auf! in Brandenburg.

  • Interessanter Titel. Ob die Autoren Brechts Werk Mutter Courage gelesen haben scheint fraglich.

    • @Rüstiger Rentner:

      Ob Sie den Text gelesen haben, scheint fraglich.



      „Mutter Courage" war der Spitzname von Regine Hildebrandt. Solche, oft liebevollen Titulierungen, kreiert der Volksmund, welcher das wörtlich und positiv meint. Schön, dass Sie Brechts Werk offenbar kennen.



      Elske Hildebrandt und Ihnen rufe ich als rüstiger Rentner zu: „Glück Auf!"