Lage in der ukrainischen Hauptstadt: „Das sind alles Lügen“
Kiew erlebt das Gegenteil dessen, was Russland bei den Verhandlungen angekündigt hatte. Statt Rückzug wird die Hauptstadt weiter beschossen.

Ungeachtet der Tatsache, dass die russische Seite als Ergebnis der Verhandlungen mit der Ukraine in Istanbul am Dienstag ihre Absicht verkündigt hat, „die militärischen Aktivitäten in den Regionen Kiew und Tschernihiw erheblich zu reduzieren“, dauern die Kämpfe um Kiew die ganze Nacht und den nächsten Morgen danach an. „Es gibt keinen Rückgang der militärischen Aktivitäten in der Nähe von Kiew. Die ganze Nacht lang wurde dort gekämpft. Daher können wir derzeit nicht feststellen, dass die Russen die Intensität der Feindseligkeiten in dieser Richtung verringern“, sagt der Berater des ukrainischen Innenministers, Vadim Denisenko, am Mittwochmorgen.
Auch die Kiewer*innen sind misstrauisch gegenüber Russlands angeblichen Zusagen. Ohnehin hat hier niemand großes Vertrauen in die Verhandlungen gesetzt. Gleichzeitig betrachten viele in der Ukraine eine solche radikale Veränderung der russischen Rhetorik gegenüber Kiew jedoch als ein Eingeständnis der Niederlage. „Am Anfang haben sie angekündigt, dass sie Kiew in zwei bis drei Tagen einnehmen würden. Jetzt sagen sie bereits, dass sie die Intensität der Kämpfe um Kiew herum reduzieren werden. Das ist lächerlich! Und es bedeutet nur eines: Bei dem Versuch, Kiew zu stürmen, sind so viele russische Soldaten gestorben, dass sie einfach nicht mehr die Kraft haben, die Hauptstadt einzunehmen“, glaubt Wjatscheslaw aus Kiew. Seiner Meinung nach ist das Scheitern der russischen Offensive ein großer Erfolg für die ukrainische Armee.
Das sieht auch der Freiwillige Witali so. Russlands Begründung, die militärischen Aktivitäten würden verringert, um das gegenseitige Vertrauen zu stärken, hält er für einen Bluff. „Die russische Führung muss dieses Scheitern vor der eigenen Bevölkerung legitimieren. Ihre Propaganda wird diese Niederlage in eine Geste des guten Willens umdeuten. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Fehleinschätzung der russischen Militärführung, die Tausende Menschen das Leben gekostet hat“, sagt Witali.
Vor einer Bäckerei in Kiew stehen die Menschen nach Brot an. Auch hier sind die Verhandlungen in Istanbul vom Dienstagabend Gesprächsthema. „Alle russischen Äußerungen sind reiner Quatsch. Die Russen haben nach den Kämpfen in der Kiewer Region einfach große Probleme mit ihrem Personal und mit ihrer Ausrüstung. Wahrscheinlich werden alle diese Truppen rotieren und woanders zusammengezogen. Und dann schlagen sie wieder zu. Darauf müssen wir vorbereitet sein“, sagt ein Mann.
Angriff auf die Schlüsselstädte
Auch ein anderer Mann, der sich als Georgier zu erkennen gibt, schaltet sich ein. „Das sind alles Lügen! Solange wir sie nicht von unserem Territorium vertreiben, wird das nicht aufhören. Russland kann man nicht trauen. In den vergangenen acht Jahren haben wir das oft erfahren müssen“, sagt er.
Niemand zweifelt daran, dass sich die russischen Truppen jetzt auf die Gebiete Luhansk und Donezk konzentrieren werden. Dort werden die Luftangriffe von Tag zu Tag intensiver. Die Städte Sewerodonetsk, Lisichansk, Awdeewka, Marinka und Krasnogorow, die ukrainische Truppen bereits 2014/15 von den prorussischen Kämpfern der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk zurückerobert hatten, werden dem Erdboden gleichgemacht. Dies alles sind die Schlüsselstädte, die die Kämpfer der selbst ernannten Republiken besetzen wollen, um schließlich die gesamten Regionen Luhansk und Donezk unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums der Ukraine kontrollieren die Kämpfer bereits 70 Prozent der Region Lugansk und 60 Prozent der Region Donezk.
Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropaworkshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen: Barbara Oertel
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!