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Foto: Brennan O'ConnorZuma Press/picture alliance

LGBTQ+-Rechte in TaiwanDie Lücke im Regenbogen

Taiwan ist Asiens Vorreiter für LGBTQ+-Rechte – aber Menschen aus China werden von der gleichgeschlecht­lichen Ehe ausgeschlossen. Ein Paar klagt.

Von Leonardo Pape aus Taipeh

R igh und Ryan denken mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Schmerz an den 19. Januar 2023 zurück. Es war der Tag, an dem Taiwans Regierung die gleichgeschlechtliche Ehe auch für Paare mit ausländischen Part­ne­r*in­nen aus aller Welt öffnete. Für Taiwan ist es ein weiterer Schritt auf dem Weg zur vollkommenen rechtlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare. Doch Righ und Ryan bleiben außen vor. Denn Righ ist chinesischer Staatsbürger, und China ist als einziges Land der Welt nicht Teil der Regelung. „Als würde einem ein Eimer Wasser über den Kopf geschüttet“, beschreibt Righ den ersten Moment nach Erhalt der Nachricht. Seitdem suchen die beiden nach Antworten – und kämpfen juristisch für die Anerkennung ihrer Beziehung.

Righ und Ryan sind seit sieben Jahren zusammen. Die meiste Zeit verbrachten sie nicht an einem Ort. Righ wohnt in Peking, Ryan in Kaohsiung im Süden Taiwans. Dort lernten sie sich auch kennen. Righ kam als Tourist nach Taiwan, das erste Mal liefen sie sich beim Joggen am Strand über den Weg. Es funkte zwischen den beiden. Sie besuchten einander, waren bei Righs Familie, vor allem aber auf Reisen überall in Taiwan.

Ryan betreibt ein Hos­tel in Kaohsiung und hat immer Reisetipps parat. Righ schmunzelt. „Das ist auf jeden Fall ein Plus in unserer Beziehung.“ Wir unterhalten uns online, Righ ist zurzeit wieder in Peking. Ein Aufenthaltsrecht in Taiwan hat er noch immer nicht. Er kann nur mit einer Ausnahmegenehmigung für Kurzaufenthalte einreisen.

Auch viereinhalb Jahre nach Einführung der Ehe für alle ist Taiwan das einzige Land Asiens, das gleichgeschlechtliche Ehen zulässt. Neben der schrittweisen Anerkennung transnationaler Partnerschaften wurde im März dieses Jahres auch das Adoptionsrecht für schwule Paare liberalisiert. Doch während die taiwanische Gesellschaft offener und freier wird, vertiefen sich die Gräben im Verhältnis zu China immer weiter. In den Augen der Kommunistischen Partei Chinas ist Taiwan nicht mehr als eine abtrünnige Provinz, die früher oder später politisch mit der Volksrepublik vereinigt werden soll – notfalls auch auf gewaltsamem Wege.

Alles, was mit China zu tun hat, ist für viele hier erst mal verdächtig

Righ aus Peking, Partner ist Taiwaner

Seit den Demokratieprotesten 2019 in Hongkong, gewaltsam niedergeschlagen auf Anweisung der Regierung in Peking, geht Taiwan unter Präsidentin Tsai Ing-wen immer stärker auf Distanz. Das chinesische Regime tritt unter Xi Jinping immer aggressiver auf und fährt mehrmals jährlich groß angelegte Militärübungen in der Taiwanstraße, der Meeresenge zwischen China und Taiwan.

Die politischen Konflikte bekamen auch Righ und Ryan zu spüren. Schon seit September 2019 können chinesische Staats­bür­ge­r*in­nen nicht mehr als Touristen nach Taiwan einreisen – Taiwan und die Volksrepublik weisen sich hierfür gegenseitig die Verantwortung zu. Righ und Ryan flogen kurz darauf in die USA nach Las Vegas, um dort zu heiraten und so ein wenig Sicherheit für sich zu schaffen.

Ryan ging im Anschluss an die Hochzeit zurück nach Taiwan, Ryan nach China. Dann kam die Pandemie, und sie sahen sich für mehr als drei Jahre nur noch virtuell. Die lange Zeit bis zum Wiedersehen diesen Mai überbrückten sie vor dem Bildschirm mit dem Singen von Ed-Sheeran-Liedern, gemeinsamem Kochen – und mit Gerichtsverfahren.

Righ und Ryan klagen gegen die taiwanische Einwanderungsbehörde. Diese verweigerte die Anerkennung der in den USA geschlossenen Ehe. Mehrere Instanzen stellten fest: Die Vorbehalte der Behörden in Taiwan seien unbegründet. Zwar gebe es gesetzlich keine Möglichkeit für chinesisch-taiwanische gleichgeschlechtliche Paare, in Taiwan zu heiraten. Doch ebenso wenig gebe es eine rechtliche Grundlage dafür, die im Ausland geschlossene Ehe nicht anzuerkennen. Ehe und Familie stehen in Taiwan grundrechtlich unter Schutz.

Doch die Gerichte vermieden es, die Einwanderungsbehörde zur Anerkennung der Ehe zu verpflichten. Stattdessen verwiesen sie den Sachverhalt zur Neuentscheidung zurück an die Behörde. Die stellt sich weiterhin quer.

Im Laufe dieses Jahres lieferte Taiwans Rat für Festlandangelegenheiten, die oberste Stelle in China-Fragen, mehrere Begründungen zur Benachteiligung taiwanisch-chinesischer gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Eine von ihnen: der Schutz der nationalen Sicherheit. Aus Sorge vor Unterwanderung durch die Volksrepublik reguliert Taiwan den Zuzug aus China von vornherein streng.

Die Ehe zwischen Mann und Frau ist derzeit für Chi­ne­s*in­nen der einzige Weg, überhaupt einen festen Aufenthaltsstatus in Taiwan zu bekommen. Die Behörden führen rigorose Hintergrundchecks durch. Um die taiwanische Staatsbürgerschaft zu bekommen, liegen die Hürden deutlich höher als bei anderen transnationalen Ehen.

Außerdem muss die Ehe zuerst in China geschlossen und dann in Taiwan bestätigt werden. Dies ist eine Folge des Sonderstatus in den Beziehungen Taiwans und Chinas, die sich wechselseitig nicht als souveräne Staaten anerkennen, und eine weitere Begründung für die Behörden, gleichgeschlechtlichen Paaren die Eheschließung zu verwehren. Denn die gleichgeschlechtliche Ehe gibt es in China nicht.

Seltene Zweisamkeit: Righ und Ryan in Kaoshiung Foto: privat

Chien Chih-chieh ist Direktorin der NGO Taiwan Alliance to Promote Civil Partnership Rights, die Righ und Ryan und andere Paare bei der Verfahrensführung unterstützt. Ihre Organisation setzt sich für die gleichgeschlechtliche Ehe in Taiwan ein. Für die Vorbehalte der Behörden hat sie wenig Verständnis. „Zu einem Großteil sind es Ausreden.“ Für die bürokratischen Hürden zur Anerkennung der Ehe gebe es rechtliche Lösungen, dies liege in der Macht des Gesetzgebers. „Und wenn wir von der nationalen Sicherheit sprechen, geht es aktuell um eine sehr kleine Anzahl von Paaren, die in Taiwan leben wollen.“

Für sie könnten die gleichen Sicherheitsbestimmungen gelten wie für heterosexuelle Paare. Nur etwa 30 bis 40 gleichgeschlechtliche Paare leben ihr zufolge zurzeit getrennt zwischen Taiwan und China. Außerdem können einige chinesische Part­ne­r*in­nen zeitlich befristet mit Studierendenvisa in Taiwan bleiben.

Ob die Behörden selbst daran glauben, dass Beziehungen wie die zwischen Righ und Ryan eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen? Chien Chih-chieh sucht nach den richtigen Worten. „Es ist in Taiwan nicht einfach, für die Rechte von Menschen aus China einzutreten.“ Die ganz reale Bedrohung durch die Volksrepublik vereinnahmt den politischen Diskurs. Dabei geraten die taiwanisch-chinesischen Paare zwischen die Fronten. Vor allem eine „laute Minderheit“ unter den Anhängern der chinakritischen Regierungspartei DPP mache Stimmung gegen die Öffnung der gleichgeschlechtlichen Ehe für chinesische Staatsbürger*innen.

„Die Regierung reagiert sehr sensibel darauf. Vor allem jetzt, vor den Wahlen“, sagt Chien Chih-chieh. In Taiwan stehen im Januar Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Tsai Ing-wen tritt nach zwei Amtszeiten nicht mehr an. Der neue Präsidentschaftskandidat der DPP, William Lai, führt in allen Umfragen. Chien Chih-chieh vermutet, dass die Partei die Frage um die Rechte taiwanisch-chinesischer Paare aus dem Wahlkampf heraushalten will. Die Parteiführung äußert sich jedenfalls nicht zu dem Thema. Es ist eine bemerkenswerte Zurückhaltung für eine Partei, die nach außen die Ehe für alle als ihre eigene politische Errungenschaft feiert.

Es ist in Taiwan nicht einfach, für die Rechte von Menschen aus China einzutreten

Chien Chih-chieh, Aktivistin

Righ kann die Vorbehalte in Taiwans Gesellschaft verstehen. „Alles, was mit China zu tun hat, ist für viele hier erst mal verdächtig.“ Das sei eben die politische Situation. Persönlich habe er in Taiwan dagegen kaum Anfeindungen gegen sich erlebt. Die rechtliche Ungleichbehandlung wollen er und Ryan aber nicht hinnehmen. Mittlerweile führen sie einen einsamen Kampf. „Wir haben vorher immer gedacht, dass wir mit allen anderen transnationalen Paaren an einer Seite stehen. Jetzt wissen wir nicht mehr, ob und wann wir zu unserem Recht kommen.“

Viele Organisationen der LGBTQ+-Szene in Taiwan haben sich in den letzten Jahren für die Öffnung der gleichgeschlechtlichen Ehe für transnationale Paare eingesetzt. Die ganze Vielfalt der Community zeigt sich dieser Tage in Taipeh. Etwa 170.000 Menschen versammeln sich am 28. Oktober zur größten Pride in Asien. Das Motto in diesem Jahr ist „Stand with diversity“. Die Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen möchten möglichst vielen unterrepräsentierten Gruppen eine Bühne geben.

Eine indigene trans Frau erzählt gemeinsam mit ihren Eltern von ihrem Coming-out und der ersten gleichgeschlechtlichen Hochzeit in der Geschichte ihrer Volksgruppe. Queere Menschen mit Behinderungen und LGBTQ+-freundliche christliche Gruppen nehmen ebenso teil wie Interessenverbände von Mi­gran­t*in­nen aus Südostasien. William Lai läuft als einziger der Präsidentschaftskandidaten persönlich in der Pride mit. Er hat schon in einem Statement einen Tag zuvor seine Unterstützung für LGBTQ+-Rechte ausgedrückt. Zur Frage der gleichgeschlechtlichen Ehe taiwanisch-chinesischer Paare positionieren er und die Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen des Marsches sich nicht.

Chien Chih-chiehs Organisation hat einen Stand am Rande der Pride. Eine Collage präsentiert die Geschichten der Paare, die mit ihr in Kontakt stehen, auch die von Righ und Ryan. Einige Paare sind selbst gekommen. Mit Postern machen sie auf sich aufmerksam. „Mein Partner ist kein chinesischer Spion“, steht auf einem, „No one should be left behind“ auf einem anderen. Eine chinesische Betroffene, die anonym bleiben möchte, erzählt: „Die LGBTQ+-Szene in China verfolgt auch, was hier in Taiwan passiert. Viele sind enttäuscht.“ Sie selbst hofft weiter auf ein neues Leben in Taiwan. Zum Ende des Tages berichtet Chien Chih-chieh: „Die meisten Leute machen einen Bogen um unseren Stand, wenn sie das Wort China sehen. Am besten funktioniert es noch, wenn wir die Leute etwas provokant direkt auf ihre Befürchtungen ansprechen.“

Ryan und Righ verfolgen die Pride in diesem Jahr aus der Ferne. Ryan hätte sehr gerne teilgenommen, doch er fliegt mit Ver­tre­te­r*in­nen der Stadtverwaltung Kaohsiungs nach Thailand. Die Delegation bewirbt Kaohsiung als Tourismusstandort – und Ryan sein eigenes Projekt, einen Standard für gendersensibles Reisen. Sein Hostel UNS B&B versucht er als Freiraum für Menschen verschiedener Geschlechter und sexueller Orientierungen zu gestalten. Daraus entwickelte sich die Idee, gendersensible Praktiken im Tourismus durch ein allgemein anerkanntes Label zu etablieren.

Etwa 170.000 Menschen feierten am 28. Oktober in Taipeh LGBTQ+-Rechte Foto: Ann Wang/ap

Ryan hofft, dass der Standard in ganz Taiwan Anwendung findet. In einem gesellschaftlichen Umfeld, das Kulturkämpfe eher scheut, arbeitet Ryan lieber mit kreativen Lösungen als mit Konfrontation: „Wenn ich zum Beispiel erklären will, warum wir geschlechterneutrale Toiletten einrichten, rede ich nicht nur über trans Menschen. Ich stelle eher die Frage: Was ist, wenn ein Vater mit seiner kleinen Tochter auf Toilette gehen will?“ Bei Ryan flammt Begeisterung auf, wenn er von seinem Engagement spricht.

Righ ist derweil zu Hause in Peking. Von Ryans Enthusiasmus scheint er Welten entfernt. Er denkt lange nach, als es um seine Erfahrungen als Homosexueller in der chinesischen Gesellschaft geht. „Eigentlich kann ich dazu wenig sagen, ich habe mich vor praktisch niemandem geoutet.“ Er könne nicht ausschließen, dass das beruflich negative Folgen für ihn hätte. Righ arbeitet als freier Steuerberater. „Vielleicht verliere ich einige meiner Kunden, wenn sie davon erfahren, dass ich schwul bin. Aber in China ist es vor allem so: Im Zweifel sagt man lieber nichts. Warum das Risiko eingehen?“ Wenn Verwandte fragen, warum er noch nicht geheiratet hat, sage er eben, er habe zu viel zu tun. In seinem engeren Umfeld hat Righ nur seiner Mutter von seiner Homosexualität erzählt. Das war vor vier Jahren, kurz vor der Hochzeit mit Ryan. Damals war Righ 44. Seinen vollen Namen und sein Gesicht möchte er lieber nicht in den Medien veröffentlicht sehen.

Gegenüber sich offen bekennenden LGBTQ+-Personen spürt Righ in China kaum offenen Hass, aber auch keine Unterstützung. Eine Atmosphäre der kollektiven Gleichgültigkeit. „Wenn mich etwas nicht persönlich betrifft, dann will ich davon am besten gar nichts wissen.“ Unter Xi Jinping betont die Regierung zudem noch stärker als zuvor traditionelle Familienideale. Nach Jahrzehnten der Geburtenkontrolle animiert sie seit einigen Jahren die Frauen, wieder mehr Kinder zu bekommen. Männliche Popidole mit weichen Zügen und nach Auffassung der Zensurbehörden allzu femininem Auftreten wurden 2021 in einer Kampagne als dekadent und unmännlich dargestellt. Queere Lebensentwürfe haben in der medialen Öffentlichkeit keinen Platz. Dazu kam in den letzten Jahren eine Serie von Repressionen gegen politisch auftretende LGBTQ+-Organisationen und gegen Gemeinschaftsorte der Community. Viele Schwulenclubs und -bars in Peking und in anderen Großstädten wurden dichtgemacht.

Chien Chih-chieh blickt fassungslos auf die jüngsten Entwicklungen. „Wir hatten lange gute Beziehungen zu LGBTQ+-Organisationen in China. Sie hatten Hoffnung, als in Taiwan die Ehe für alle eingeführt wurde, dass sich auch in China die Dinge zum Besseren wenden. Doch in den letzten Jahren sind alle Kontakte abgebrochen.“ Die Organisationen, mit denen sie zusammenarbeitete, wurden aufgelöst. Die meisten der Aktivist*innen, die sie kannte, lebten heute in Europa und den USA. Die Anerkennung der Ehe für alle für taiwanisch-chinesische Paare scheint eine der letzten Möglichkeiten zu sein, überhaupt persönliche Verbindungen zwischen den Communities zu halten.

Wie denkt die Mehrheitsgesellschaft in China über all das? „So weit ich es einschätzen kann, wissen die meisten Menschen nicht einmal, dass es in Taiwan die gleichgeschlechtliche Ehe gibt“, erzählt Righ. Dazu gebe es schlicht keine Informationen in den staatlich gelenkten Medien. Er wirkt abgeklärt. Er hat sich mit den Verhältnissen in China abgefunden. Auch weil für ihn feststeht, dass er langfristig mit Ryan in Taiwan leben will.

Zurzeit müssen die beiden jedoch warten. Auf ihr nächstes Treffen, auf eine politische Entscheidung, auf das nächste Gerichtsurteil. Sie wollen das Verfahren notfalls bis vor den Obersten Gerichtshof bringen. Vielleicht ist das in der so polarisierten Atmosphäre der aussichtsreichste Weg. Schon im Zuge der Einführung der Ehe für alle waren die Gerichte, und nicht die Politik, die treibende Kraft hinter der Liberalisierung. Ryan bleibt optimistisch. „Immerhin können wir hier in Taiwan für unsere Rechte kämpfen.“ Reisepläne gebe es auch noch genug. Die beiden waren noch nie zusammen auf einer Pride. Doch das, sagt Righ, sei nur eine Frage der Zeit.

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