Kuratiertes Hören: Bitte Ruhe!
Der moderne Mensch trägt Headset. Das macht ihn weitgehend unerreichbar und reduziert die Außenwelt zur bloßen Lärmquelle. Eine Beschwerde.
Diese Zeiten sind vorbei. Wenn man sich umschaut, sieht man massenweise Leute, die die Kontrolle gewonnen haben über das, was an akustischer Außenwelt zu ihnen vordringt. Glaubt man einer Studie des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom), nutzen fast zwei Drittel der über 16-Jährigen in Deutschland Kopfhörer, über die Hälfte davon mehrmals pro Woche. Wozu? Knapp die Hälfte, um damit „die eigene Umwelt auszublenden“, schreibt Bitkom, ohne das weiter zu kommentieren, die Dinger verkaufen sich schließlich sehr gut.
Kopfhörer sind die gegenwärtige Form des Lärmschutzes, sie haben die Nachfolge von Oropax angetreten und natürlich sind die Ohrstöpsel Pillepalle im Vergleich zu ihnen. Denn was da mit oder ohne Kabel am Ohr sitzt, verhindert nicht nur, dass ungefiltert Außengeräusche eindringen – es sorgt gleich für ein Gegenprogramm. Der Kopfhörerträger ist nicht länger passiver Empfänger akustischer Botschaften, er ist Kurator, mehr noch, er ist nur noch Sender.
Dass Geräusche von außen, seien sie menschlicher oder tierischer oder mechanischer Herkunft, als Störung empfunden werden, ist nichts Neues – das sah man schon lange vor der Industrialisierung so. Schon der römische Satiren-Dichter Juvenal machte den nächtlichen Handels- und Reiseverkehr – tagsüber waren die Straßen Roms überfüllt – für zahlreiche Tode wegen Schlaflosigkeit verantwortlich. Im 19. Jahrhundert wird aus den privaten Klagen über Lärm eine öffentliche Frage.
Der Historiker Jan-Friedrich Missfelder beschreibt, wie im London des Jahres 1864 ausgerechnet auf Mitbetreiben von Charles Dickens, dem Chronisten des städtischen Prekariats, das öffentliche Drehorgelspiel eingeschränkt wurde. Dickens steht damit stellvertretend für zahllose Intellektuelle des 19. und 20. Jahrhunderts, die in ihrer Lärmempfindlichkeit das Kennzeichen geistiger Empfindsamkeit und Größe sehen.
Betäubt vom Lärm
Und natürlich war die Wirtschaft bereit, sich in den Dienst dieser Empfindsamkeit zu stellen: Bereits 1885 kam das sogenannte Antiphon als Lärmschutzinstrument auf den Markt, eine Hartgummikugel mit Metallbügel, das sich aber in der Handhabung als unpraktisch erwies.
Der Philosoph Theodor Lessing sammelte seinen Zorn 1908 in der Schrift „Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens“. Lange bevor Musik zur Grundausstattung von Kaufhäusern und Yoga-Studios wurde, lange vor der Privatisierung der Geräuschwelt durch die Kopfhörer witterte er in der allgemeinen Lärmkulisse ein „Narkotikum, mit dem der moderne Mensch sich zu betäuben und die Nichtigkeit seiner eigenen Existenz zu verdrängen suche“, so schreibt der Wiener Historiker Peter Payer.
Lessing gründete in Hannover einen Antilärm-Verein, der unter anderem Karten mit der Aufschrift „Ruhe ist vornehm“ drucken ließ. Eben dieser elitäre Gestus ließ etwa den Lärm, dem die Arbeiter in den Fabriken ausgesetzt waren, völlig außer Acht. Selbst über den Geräuschpegel in der Umgebung zu bestimmen – das war in den Augen der bürgerlich-intellektuellen Lärmfeinde ein Privileg, das nur Geistesarbeiter brauchten.
2018 gaben laut Statistischem Bundesamt 28 Prozent der Deutschen an, sich in ihrem Wohnumfeld durch Verkehrs- oder Nachbarschaftslärm belästigt zu fühlen. Das waren zwei Prozent mehr als im Vorjahr und immerhin zehn Prozent mehr als im europäischen Durchschnitt.
Wobei Lärm eine subjektive Größe ist, der allein durch die Vermessung in Dezibel nicht beizukommen ist. Die „Zielgröße“, so sagen Akustik-ForscherInnen, ist die Wahrnehmung. Es ist eine banale Wahrheit: Ob man das Getrappel der Kinder in der Nachbarwohnung für erträglich hält oder nicht, hängt stark davon ab, wie viel Sympathie man den Kindern als solchen, möglicherweise auch ihren Eltern entgegenbringt.
Die HistorikerInnen, die versuchen, die in vielem ungewisse Geschichte der Geräusche nachzuvollziehen, sind sich einig, dass der Kampf gegen den Lärm der Industrialisierung auch deshalb so überschaubar blieb, weil die Lärmquellen gesellschaftliche Achtung genossen: die Eisenbahn, die Autos, all das waren Neuschöpfungen, denen man, wenn nicht mit Begeisterung, dann allemal mit Achtung vor dem technischen Fortschritt begegnete.
So schwer greifbar wie die Natur des Lärms ist die der Lärmempfindlichkeit. Fragt man bei der Geschäftsführerin der Hamburger Beratungsstelle „Mieter helfen Mietern“, ob die Zahl der nachbarliche Lärmkonflikte steigt, so sagt sie: eher nicht. Aber ein Thema sind sie. Olaf Büchsenschuss, Sozialarbeiter bei der Hamburger Wohnungsgenossenschaft von 1904, meint, dass rund die Hälfte der Nachbarschaftsstreits sich am Lärm entzünden. „Mal über Wohngeräusche, mal über Kinder, mal über laute Musik oder Handwerksarbeiten.“
Und das querbeet: Alte und Junge, Kinderlose und Eltern, Akademiker und Arbeiter beschweren sich. Die Geräuschempfindlichkeit hat die soziale Schranke weitgehend genommen – nur dass die Akademiker noch etwas stärker auf ihr Recht pochen, ihre Lärm-Wahrheit ist die ganze Wahrheit. Und da haben sie, anders als sie selbst es annehmen mögen, sogar etwas verstanden: Lärm ist ein soziales und zeitgebundenes Phänomen.
Negation der akustischen Außenwelt
Je höher die tatsächliche oder gefühlte Anspannung im sozialen und Arbeitsleben, desto geringer die Akzeptanz weiterer Belastungen zu Hause. Wir alle, denen alles zu viel wird, glauben ein Anrecht auf ein störungsfreies Zuhause zu haben. Frei von Geräuschen, die wir nicht selbst angefordert haben. Denn natürlich geht es nicht um Stille, da sei der Himmel vor, es geht um die selbst komponierte Geräuschkulisse.
Was das Neue daran ist: es ist die absolute Negation der akustischen Außenwelt. Hier wird nicht mehr unterschieden zwischen Außengeräuschen, die stören, und solchen, die wir an uns heranlassen. Wir, denen alles zu viel ist, tragen den Kopfhörer draußen und drinnen.
Aber eigentlich gibt es kein Draußen mehr: Verlassen wir unseren privaten Raum, so versuchen wir so lange wie möglich, unser Zuhause mit uns zu nehmen. Sei es als Trinkgefäß, das wir mit uns führen, sei es als Kopfhörer, der uns zuverlässig in der Audio-Welt belässt, die wir irgendwann als Dauerschleife eingerichtet haben.
Auch wenn wir es erst einmal nicht glauben mögen: Die Stadt ist leiser geworden. Die heutigen Autos sind weniger laut als die Räder der Pferdekutschen, die Signalgeräusche der Hupen und Klingeln sind mit der Einführung der Ampeln verstummt.
Wer heute Kopfhörer trägt, will sich nicht vor Lärm schützen. Auf eine verquere Art tut er oder sie das, was all jene tun, die neuerdings Desinfektionsmittel aus ihren Handtaschen ziehen: Er schützt sich gegen eine als unrein empfundene Umwelt. Was von außen kommt, stört. Die reale, falsche Tonspur wird durch eine künstliche, bessere ersetzt. Der Kopfhörer ist ein „Bitte nicht stören“-Schild, das aus dem öffentlichen Raum einen riesigen Hotelkomplex macht, in dem jede Kontaktaufnahme bereits ein Übergriff ist.
Die Frage, was deren Dauernutzung für physische und psychische Folgen hat, ist wissenschaftlich bislang wenig beleuchtet. „Die Datenlage ist sehr überschaubar“, sagt der Psychoakustiker André Fiebig von der TU Berlin. Dass es Folgen hat, sich akustisch von der Umwelt zu entkoppeln, davon geht er aus.
Das Gehör ist das Warnsystem, das den Menschen rund um die Uhr schützt, selbst im Schlaf. „Ich vermute, dass es zu Unsicherheit führt“, sagt Fiebig – auch wenn es den Beteiligten gar nicht klar ist. Eines seiner Themen ist „Soundscaping“, also die akustische Gestaltung öffentlicher Räume, etwa mit einem Springbrunnen im Tiergarten. Aber, so fragt sich Fiebig, wozu öffentliche Klangräume anlegen, wenn sich gerade alle in die privaten verbarrikadieren?
Mit den Headsets ist die Nutzerin noch undeutbarer für die Außenwelt geworden, als sie es mit Kopfhörern war. Hört sie gerade Musik, telefoniert sie oder ist sie ansprechbar? Die Headsets, eine Kombination aus Kopfhörer und Mikrofon, die man Sprechgarnitur nennen könnte, aber es nicht tut, weil es zu altmodisch klingt für ihren Funktionskleidungsallzeitbereitpragmatismus, sind immer kleiner, leistungsfähiger und komfortabler tragbar geworden.
Wenn ich sie sehe, denke ich in die Vergangenheit und Zukunft zugleich. Sie erinnern an die Ausstattung von Piloten der 50er-Jahre und zugleich wirken sie wie eine Vorstufe für die Zeit, in der man Sprechgarnituren implantiert. Sie sind ein Zwischenschritt: schon jetzt greifen ihre NutzerInnen viel komfortabler und unauffälliger aufs Digitale zu, wobei es weniger wie ein Zugriff wirkt – es ist ein Eintreten in die digitale Welt.
Warum also das Headset überhaupt noch herausnehmen? Noch ist das eine Frage, die sich stellen lässt; wen es interessiert, kann Kolumnen zum Thema Sex mit und ohne Airpod lesen, deren Halbwertszeit jetzt schon absehbar ist.
Der Historiker und Stadtforscher Peter Payer hat in einem Interview gesagt, dass mit dem Handyaufkommen etwas zurückgekommen ist in die moderne Stadt: die menschliche Stimme. Payer sagt zudem, dass wir uns an die umfassende technologische Revolution, deren Zeugen wir sind, erst noch gewöhnen müssen.
Als ich Kind war, hörte man, nicht oft, aber ab und an, Menschen mit sich selbst sprechen. Noch jetzt passiert es mir gelegentlich, dass ich kurz annehme, jemanden im Selbstgespräch anzutreffen oder jemanden, die Stimmen hört. Tatsächlich sind es fast immer Handygespräche und es ist seltsam, dass es in gewisser Hinsicht keinen Unterschied macht: Beides sind Gespräche, die nicht auf einen Dritten angelegt sind.
Das Headset ist für die Kommunikation das, was der SUV für den Verkehr ist: ein sichtbares Zeichen der Bedeutungslosigkeit jeglicher Außenwelt. Wichtig ist nur das drinnen. Es ist lustig, was der Sozialarbeiter Olaf Büchsenschuss über die Folge der Sanierungen der Genossenschaftswohnungen gesagt hat: Da sie besser isoliert sind, bleibt der Schall stärker im Haus. Drinnen wird alles lauter und Büchsenschuss weiß schon vor der Sanierung, dass danach die Lärmbeschwerden kommen werden.
Der Kopfhörer ist eine akustische Sanierung seiner TrägerInnen. Fragt sich nur, ob sich irgend jemand über die Folgen beschweren wird.
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