piwik no script img

Kunsttips der WocheRandfiguren der Stadt

In den Galerien: Gefundenes Material, gespiegelte Sehgewohheiten und tiefschwarze Aquarelle. Die Soft Solidarity Assembly berät über Öffentlichkeit.

„WORLDEGG“, Installationsansicht, Courtesy Ryan Siegan-Smith und Soy Capitán, Berlin Foto: Nick Ash

E s ist kalt und die Straßen sind lockdown-geleert. Der Herbstwind fegt das städtische Geröll über den Asphalt und man könnte meinen, in den feuchten Rinnen des Trottoirs würden sich Laub, Plastiktüten oder Coffee-to-Go-Becher ungestört zu einem eigenen Leben zusammentun. Der britische Künstler Ryan Siegan-Smith betrachtet diese lehmartig verdichteten Klumpen auf unseren Straßen als eine Ansammlung von Energie und Material, die wie Kompost „in ihrer eigenen Feuchtigkeit und Hitze kocht“.

In der Galerie Soy Capitán verdichtet er Müll, Erde, Laub und einzelne handgefertigte Keramikstücke zu kreatürlichen Formen. Sie scheinen wie Randfiguren der Stadt und gleichsam wie Lebensformen eines postindustriellen Ökosystems: Clochards, eingehüllt in eine Decke, puschelige Trolle mit Hundehalsband oder ein eitler Charakter mit Silbermedaillon. Siegan-Smith gibt seinen plastischen Figuren kein erkennbares Gesicht, vielmehr macht das gefundene Material ihr Wesen aus. Und das erreicht trotz Drolligkeit psychische Tiefen.

Die leere Straße spiegelt sich in der Galerie KM wider. Alexandra Leykauf, die in ihrer Arbeit häufig die Abbildung und Projektion von Räumen thematisiert, hat eine transparente Spiegelfolie an die großen Schaufenster der Galerie attachiert. Blickt man nun von innen nach außen auf das Hallesche Tor, so überlagern sich die verschiedenen Perspektiven auf dem Spiegelbild.

Das Spiel mit dem Blickwinkel setzt die Künstlerin auf ihren Wandarbeiten fort. Es sind – frei formuliert – Fotomalereien: Leykauf pinselt Silbergelatine-Emulsion auf herausgetrennte Seiten von klassischen Ausstellungskatalogen, auf denen Landschaftsmalereien von der Neuzeit bis zur Moderne reproduziert sind, sie fixiert und belichtet sie. Eine schwarze Masse umrahmt schließlich die farbigen Landschaften von Paul Klee oder Camille Pissarro, aus den freigelassenen Fragmenten dringen Gesichter oder Körper hervor. Bilder im Bild. Sie werfen die Frage nach unserer Kultur des Sehens auf: Welches Motiv sehe ich und warum sehe ich es so?

Ausstellungen + Symposium

Soy Capitán, Ryan Siegan-Smith: WORLDEGG. Bis 12.12. Mi.–Sa. 12–18 Uhr, Prinzessinnenstr. 29.

KM, Alexandra Leykauf: I’ve looked at clouds from up and down. Verlängert bis 19.12. Mi–Sa. 14–18 Uhr. Mehringplatz 8.

Galerie Thomas Fischer bei ANDREAS MURKUDUS, Joachim Bandau: Schwarzaquarelle. Bis 14.11. Mi.–Sa. 11–18 Uhr, Potsdamer Str. 77.

Galerie Wedding, SoS-Assembly. Symposium Mit Bini Adamczak, Marwa Asanios, Klaus Lederer, María do Mar Castro Varela, Parlament der Vielen, Natascha Sadr Haghighian u. a. 12.11.–14.11., 12–22 Uhr. Stream abrufbar unter: galeriewedding.de/sos-assembly.

Von der Potsdamer Straße aus verdichten sich die Aquarelle von Joachim Bandau zu einem schwarzen Sog, als öffnete sich hinter ihren rechteckigen Flächen die Wand in einer tiefen Flucht. Sie heißen auch schlicht „Schwarzaquarelle“. Der nomadische Galerist Thomas Fischer, der jetzt während des Lockdowns in den Räumen des Designhändlers Andreas Murkudis quasi am Schaufenster vorführt, dass Galerien zum Einzelhandel gehören, zeigt späte, formal äußerst reduzierte Arbeiten des 1936 geborenen Bandau. Der legt in seinen Aquarellen graue Rechtecke leicht versetzt übereinander, bis zu zwanzig Stück.

Das Schöne findet dann im Detail statt: Nur leicht zeichnen sich die einhegenden Linien von der grauen Fläche eines jeden Rechtecks ab, nur ganz fein überschneiden sie sich. Tritt man von der nahen Betrachtung wieder zurück auf die Straße, so flirren die Umrisse auf Bandaus Schwarzaquarellen wie auf einem unscharfen Röntgenbild, doch im Zentrum wird alles tiefschwarz.

tazplan

Der taz plan erscheint auf taz.de/tazplan und immer Mittwochs und Freitags in der Printausgabe der taz.

Tiefschwarz, Lockdown, leere Straßen, Herbst – trotzdem gibt es sie noch: die Öffentlichkeit. Nach dem historischen Vorbild des Roten Wedding will sich das Symposium Soft Solidarity Assembly vom 12. bis zum 14. November über die Werte, den Zusammenhalt und die Aktionsmöglichkeiten der Öffentlichkeit austauschen. Ausgerichtet von der Galerie Wedding, corona-bedingt per Webstream: galeriewedding.de/sos-assembly. Mit tollen Beteiligten wie Bini Adamczak, das Parlament der Vielen oder Natascha Sadr Haghighian.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Sophie Jung
Kunstredakteurin
Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!