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Kunstaktion auf Balkonen in BerlinKörper und Antikörper

„Die Balkone“ fragt im Herzen und an den Rändern des Prenzlauer Bergs nach künstlerischen Positionen in der Coronakrise.

Susanne Sachsses und Marc Siegels Beitrag zu „Die Balkone“ Foto: Susanne Sachsse / Marc Siegel

Als sich am Ostersonntag David Bowie und Alfred Hitchcock in Prenzlauer Berg begegneten, war das keine der vehementen Nachmittagssonne geschuldete Halluzination, sondern ein Zusammentreffen des Musikers und Regisseurs über dem Kopfsteinpflaster der Immanuelkirchstraße.

Aus einem geöffneten Balkonfenster wehte einer von Bowies bekanntesten Songs, „Space Oddity“; in die Story von Major Tom, verloren und frei im Weltall, mischte sich aus einem gegenüberliegendem Balkonfenster ein Kindergesang, dessen Unschulds-Sound etwas unterschwellig Bedrohliches transportierte: Es handelte sich um das alte Volkslied „Risseldy Rosseldy“ in der Version aus einem von Hitchcocks bekanntesten Filmen, „Die Vögel“.

Das Lied, so war auf einem Anschlag am Erdgeschoss zu lesen, ist in der Tat nicht harmlos, in der Originalversion wird eine Ehefrau geschlagen, weil sie sich nicht genug um das Haus kümmert. Hitchcocks Film mit den sprunghaft angreifenden Möwen, Sperlingen und Krähen hat diverse Deutungen erfahren, politisch-historische vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, ökologische im Sinne einer zurückschlagenden Natur wie psychologische als Ausdruck familiärer Kettenreaktionen.

In die Immanuelkirchstraße geholt wurden „Die Vögel“ von der Fotografin Eva Stenram und dem Schriftsteller Tom McCarthy, zwei von circa 60 Beteiligten der Kunstaktion „Die Balkone“, die bis einschließlich Montag im Herzen und an den Rändern Prenzlauer Bergs stattgefunden hat.

Die Balkone“ fragte nach künstlerischen Positionen in der Coronakrise. Hitchcocks „Vögel“ waren greifbar und waren es wieder nicht, der Brückenschlag vom Film zum Virus hat sein Fundament, und Stenram und McCarthy haben auf ihrer Balkonbrüstung tatsächlich eine Handvoll künstliche Krähen platziert. Der eigentliche Job der Attrappen sei es, andere Vögel fernzuhalten; ob die PVC-Vogelscheuchen aus dem Gartencenter ihren Antikörper-Job erfüllen, sei dahingestellt.

taz plan im exil

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Wie bestellt wirkte in diesem Rahmen der David-Bowie-Song, dabei scheint es sich schlicht um die Compilation oder Playlist eines Nachbarn gehandelt zu haben, weitere Hits folgten, während der Gesang von Hitchcocks Kindern durch die Immanuelkirchstraße zog.

Einige Häuser weiter in Richtung der Kirche, die der Straße ihren Namen gab, hatten die Künstler Eva Scharrer und Martin Frese in einem Hinterhof Gedichtblätter drapiert: einzelne Drucke zum Mitnehmen, Texte über den Lockdown, über Isolation und Alleinsein, Krankheit, Genesung, Hoffnung, Überleben und einen Balkon. Nicht einfach einen, sondern „Der Balkon“ von Rainer Maria Rilke, datiert vom August 1907 in Paris, wobei Rilke in der Überschrift Neapel als Ort dazusetzte.

Sechs Strophen, die angelehnt sein könnten an „Le Balcon“ von Édouard Manet aus dem 19. Jahrhundert, das Porträt von drei Personen im bürgerlichen Habit auf einem herrschaftlichen Balkon mit einem Diener im dunklen Hintergrund. Das Bauwerk scheint festgefügt, zwischen den Personen jedoch scheinen Fliehkräfte zu wirken. In Rilkes Gedicht lehnen zwei Schwestern „Einsamkeit an Einsamkeit“, während eine alte Frau auftritt, mit einer müden Hand, „wie noch unbestimmbar, wie noch nicht“.

Diesen und die anderen Texte, unter ihnen Hermann Hesses „Im Nebel“ oder Cesare Paveses „Hunger nach Einsamkeit“, hat Eva Scharrer ausgewählt, ihr Nachbar Martin Frese die einzelnen Blätter mit dem Stempeldruck eines Kranichs versehen, Symbol der Wachsamkeit und Klugheit, der Langlebigkeit und des Glücks.

Im Weitergehen von Balkon zu Balkon, in Richtung Weißensee, ließ sich dann in der Jablonskistraße in einem Fenstervorsprung lesen: „12.4. 2020. I got up at 7.45 AM.“ Diese Mitteilung nun bezog sich auf den japanischen Konzeptkünstler On Kawara, der zwischen 1968 und 1979 zwei verschiedenen Personen eine Postkarte mit dem jeweiligen Datum und der Uhrzeit, zu der er aufgestanden war, schickte.

Minimalismus und Lakonie also, so wenig und dabei so allerhand. Die Organisatoren von „Die Balkone“ zitierten in ihrer Pressemitteilung einen Satz aus Jean Genets Drama „Der Balkon“, einem Stück, das als makabrer Revolutionsreigen gesehen werden kann. Genets Balkon ist ein Bordell, in der Realgeschichte war der Balkon ein Ort, von dem aus Republiken verkündet, aber auch Diktaturen deklariert worden sind.

Der Satz lautet: „Wenn wir uns wie die auf der anderen Seite verhalten, dann sind wir die andere Seite. Anstatt die Welt zu verändern, werden wir nur eine Spiegelung derer, die wir zerstören wollen, erlangen.“ Im Stück sagt ihn Roger, einer der Revolutionäre, der in einer von Genets Wendungen als Polizeichef auftritt.

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