Kunst und Krise in Griechenland: Nächster Akt
Ein Theaterprojekt in Athen stemmt sich gegen die Krise. „Es geht darum, seine Stimme zu erheben“, sagt die Organisatorin.
Auf ein Kommando des Trainers stemmen sich die Körper gegeneinander, einer der Partner legt die Hände an den Kopf des Gegenübers, presst gegen Stirn, Kiefer, Schultern. Die Probanden winden sich unter dem Druck, weichen ihm aus, halten dagegen.
Im Halbschatten am Rand der Halle sitzt Marina Mantzouki, eine zierliche Frau mit glattem, alterslosem Gesicht. Sie beobachtet die Studenten, die sich mit angespannten Gesichtern über den Betonboden schieben. „Die Technik heißt Fighting Monkey, eine Mischung aus Bewegung und Kampfkunst“, sagt sie, die Stimme zum Flüstern gesenkt. „Es geht darum, ursprüngliche Bewegungen wiederzufinden, Vertrauen in den eigenen Körper.“
Marina widmet sich wieder dem kleinen, schwarzen Laptop auf ihren Knien. Eigentlich wollte sie den Workshop auch belegen, aber dann hat sie der Alltag eingeholt: ein Auftrag, der erste seit Langem. Sie soll einige Folgen einer spanischen TV-Soap ins Griechische übersetzen. Die Bezahlung steht noch nicht fest, aber es soll schnell gehen. Also legt sie los und flucht, wenn ihr ein Wort fehlt.
Eigentlich ist sie hier, um genau diesen Alltag für eine Zeit vergessen zu machen – „die Krise, ja, die Krise“, hatte sie gesagt und gelacht. Es ist der Spätsommer vor der griechischen Parlamentswahl, Alexis Tsipras ist noch der Herausforderer, Hoffnungsträger für die einen und unmöglich für die anderen. Und irgendwie auch ganz egal, wie Marina sagt – wie viele Griechen glaubt sie nicht, dass sich durch einen politischen Wechsel viel an ihrer Situation ändern würde. Beim Theater gehe es ihr um etwas anderes: Zumindest für zehn Tage im Jahr sollen Schauspieler in Griechenland wieder Schauspieler sein, Tänzer wieder Tänzer, Menschen wieder Menschen – und nicht Arbeitslose, mittellose Selbstständige oder Rentner ohne Rente.
Theaterleute mit internationalem Ruf
In diesen zehn Tagen erweckt die Theatergruppe „Baumstraße“ die alte Ölmühle im Athener Vorort Elefsina zum Leben. Etwa 50 Theaterschüler proben Stücke und führen sie auf. Die „Schule für antikes Drama“ hat internationales Renommee, vor allem wegen der Performer und Tänzer aus ganz Europa, die Workshops geben und Vorträge halten.
Marina ist Organisatorin, Ansprechpartnerin, Büro der „Baumstraße“; ihr Bruder Vassilis Mantzoukis und ihre Schwägerin Martha Frintzilla haben die Theatergruppe gegründet und ihr den deutschen Namen gegeben, der auf ein Gemälde von Paul Klee zurückgeht. Vassilis ist Komponist und regelmäßig bei den großen griechischen Theaterfestivals vertreten, Martha ist Schauspielerin am Nationaltheater und gibt Seminare. Kulturelle Elite, wenn man so will, zumindest gehören sie zu den Auserwählten in Griechenland, die noch von ihrer künstlerischen Profession leben können.
Ein Luxus ist das nicht: In Elefsina schlafen sie im Matratzenlager auf dem Fußboden des alten Verwaltungstraktes oder auf Isomatten. Öffentliche Förderung erhalten sie nicht, die Kommune stellt kostenfrei das Gelände zur Verfügung – das war’s. „Wir haben schon überlegt, ob wir im nächsten Jahr Bauarbeiterhelme austeilen sollen“, sagt Marina, nur halb im Scherz – Teile der alten Ölmühle sind einsturzgefährdet.
Sie klappt den Laptop zu und schlendert nach draußen. Ihre Sandalen knirschen auf dem Schotter des weiten Vorplatzes. Eine Bruchsteinmauer fasst das Gelände ein, von der Straße ragen Pinienwipfel in den Hof. Elefsina war seit der Antike ein kulturelles Zentrum, wie Marina erklärt. Der große Tragödiendichter Aischylos ist hier geboren.
Heute ist Elefsina ein Vorort, gelegen am kleinen Nebenarm einer Hauptverkehrsader, die sich an der Stadt vorbeizieht. Rechter Hand flache Lagerhallen mit gesprungenen Scheiben, links die Promenade. Kinderspielplatz, ein paar Meter Sandstrand. Frachtschiffe kreuzen die Bucht, eine verirrte Jacht zwischen den Hügeln am Horizont, wohl auf dem Weg zum Hafen von Piräus. In der Ferne steigt Rauch auf, aus dem Schlot einer Raffinerie schießen Feuerstöße. Natürlich gebe es noch Industrie in Griechenland, Wohlstand, Reichtum sogar, sagt Marina. „Nur sind die meisten Menschen von dieser Sphäre ausgeschlossen.“
„Wir stecken alle in einem Haufen Scheiße“
Das Seminar ist beendet, die Theaterschüler haben sich vor dem Küchenbungalow niedergelassen. Paul, ein schlaksiger Student aus New Jersey, liegt in der Sonne, Joko sitzt auf einem Plastikstuhl und unterhält sich mit zwei Freundinnen aus Athen. Er ist 24, studiert Kunst und Theater; schlank, braun gebrannt, mit schwarzer Latzhose über dem T-Shirt. Am Träger der Hose krallt sich eine kleine Schwalbe fest. „Das ist Homer“, sagt er und grinst. „Wir haben ihn beim Aufbau gefunden und aufgepäppelt.“ Joko war im Vorjahr Schüler, dieses Mal ist er als Helfer dabei. „Das hier ist Arbeit“, sagt er. „Waschen, spülen, aufräumen. Arbeit an Stücken, an Texten. Und Arbeit an mir selbst.“
In Athen teilt sich Joko ein kleines WG-Zimmer mit einem anderen Studenten. „Wir sind alle in der gleichen Situation“, sagt er, räuspert sich und setzt den kleinen Vogel auf dem Tischchen ab. „Wir stecken in einem Haufen Scheiße. Du findest keine Arbeit, hast nicht das Geld, um die Miete zu zahlen, den Strom. Es reicht vorne und hinten nicht. Du musst Wege finden, das mal kurz zur Seite zu schieben. Dein Leben erträglich zu machen.“ Das hat ihn zur Baumstraße und schließlich zur Theaterschule nach Elefsina geführt.
In der Küche der alten Ölmühle wird das Mittagessen aufgewärmt, in Backformen dampft Pasticio – Nudelauflauf –, es duftet nach Minze. Marinas Mutter betreibt ein kleines Catering-Unternehmen, sie bringt jeden Tag das Essen vorbei. Die Studenten nennen sie „Frau Happy“, weil sie so viel lacht. „Das Ganze hier funktioniert nur als Familienunternehmen“, sagt Marina.
Sie zahlen noch drauf
Plötzlich wird es laut auf dem Vorplatz: Martha ist angekommen. Umarmungen, Küsse auf die Wange. Ein tiefes, fast frivoles Lachen, dann steht Martha Frintzilla in der Küchentür, hochgewachsen, im weiten Kleid, die lockigen Haare zu einem Zopf gebunden. Sie ist 42 Jahre alt, klassisch-schönes Gesicht mit großen Augen und hohen Wangen; eine Figur, die eher Lebensfreude als Askese ausstrahlt. Im Nationaltheater spielt sie die Aphrodite, seit 2011 bespielt sie außerdem mit ihrem Lebenspartner den Probe- und Aufführungsraum der „Baumstraße“ in Athen und organisiert die Sommerschule in Elefsina.
„Ein gutes Geschäft ist das nicht“, sagt Martha und lacht ihr tiefes Lachen. Sie hat sich in einen der Plastikstühle sinken lassen, Zigarette in der Hand. Bei viele Aktionen müssen sie selbst etwas zuschießen, manchmal findet sich eine Stiftung oder ein Mäzen. Die Kurse kosten zwischen 20 und 50 Euro. Wer nicht bezahlen kann, hilft stattdessen – putzt, baut Bühnen auf oder fasst in der Küche mit an. „Ohne die Gemeinschaft würde es nicht gehen“, sagt Martha.
Im ersten Jahr seien sie 50 Leute gewesen, Studenten, Lehrer, Helfer. Im nächsten 100. Jetzt seien sie schon 500, im losen Verbund. „Die Menschen suchen nach Nähe. Um zu sehen: Ich bin nicht allein in diesem Albtraum.“ Mindestens drei Viertel der Studenten seien arbeitslos. In Athen gibt es wieder regelrechte Armenspeisungen, zu denen Tausende für eine warme Mahlzeit pilgern. Auch in Elefsina, Marthas Geburtsort, geben sie wieder Essen aus, zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, wie sie sagt.
Machen was einem gefällt
Aber wie kann das Theater ein Ausweg sein aus dieser Misere? Diesmal kein Lachen, sondern kurze Stille, ein Zug an der Zigarette. „Im antiken griechischen Drama geht es um Menschen und um die Macht über Menschen“, sagt Martha. „Es geht darum, seine Stimme zu erheben.“ Sie sehe doch die Müdigkeit vieler Menschen. „Theater kann ihnen helfen, ihre Stimme wiederzufinden. Oder zumindest ein Licht sein in dieser Dunkelheit.“
Auch Martha glaubt nicht an einen schnellen Wiederaufstieg, den oft beschworenen Ausweg aus der Krise. „Wir müssen uns andere Wege suchen“, sagt sie. Zusammenhalt sei das eine, Gemeinschaft, getragen von fast familiären Beziehungen, von Tauschgeschäften und offenen Räumen. Von Freiwilligen, die ihre Kraft und Zeit in ein gemeinsames Projekt investieren. „Wenn du mit keinem Beruf Geld verdienen kannst, weil du keinen Job findest, dann kannst du zumindest machen, was dir gefällt“, sagt Martha mit der Ratio der Stunde null.
Ist dieser Neustart durch die Krise vielleicht auch eine Chance für die griechische Gesellschaft, für die Kunst? Da winkt sie ab und lacht. „Ich glaube, wenn sich die Wirtschaft etwas erholt hat, dann werden sich die meisten hier wieder schlecht bezahlte Jobs suchen und der Kunst den Rücken kehren.“
Einige unbeschwerte Abende
Am letzten Abend der Theatertage glänzt das Meer in der Abendsonne. Es ist ruhig, kein Frachter in Sicht. Am Wasser entlang schlängelt sich eine kleine Menschenschar in Richtung der alten Ölmühle, der Stuhlreihen und Bühnen, die die Theatergruppe dort aufgestellt hat. Es ist ihr Geschenk an Elefsina: einige unbeschwerte Abende.
Als alle längst sitzen, verlässt auch Marina das kleine Verwaltungsgebäude, in dem sie an ihrer Übersetzung gearbeitet hat. Sie stellt sich in die letzte Reihe, zieht an einer selbst gedrehten Zigarette. Ihr Freund ist gekommen, um später beim Abbau zu helfen. Sie lehnt sich bei ihm an, lacht. Auf der Bühne jammert ein spindeldürrer Schauspieler im Kostüm der Aphrodite über die Schuldenlast der Griechen. Schallendes Gelächter, minutenlanges Lachen und Johlen.
Ein halbes Jahr später hat Griechenland eine neue Regierung. Der Streit über Schulden und Hilfsgelder mit der Troika, die jetzt Brüsseler Gruppe heißt, ist wieder in vollem Gang. Joko wohnt noch immer in seiner Studentenbude. Marina wartet weiter auf Aufträge – und plant die Theaterkurse für dieses Jahr. Wieder zehn Tage Elefsina. Noch hat hier keiner der Kunst den Rücken gekehrt.
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