Kunst im öffentlichen Raum: Leben im Schrumpfmodus
„Miss You“, eine Plakatausstellung im öffentlichen Raum, legt uns gerade nicht sichtbare Künstler:innen ans Herz. Jedes Bild hat eine Geschichte.
Das ist eine wohlvertraute Melancholie: allein am Frühstückstisch, den Kopf schwer in die Hand gestützt, vor sich den Laptop, aber auch noch die Teekanne. Mit der Aussicht, dass sich in Zeiten des Lockdowns an dieser Situation den ganzen Tag über wenig ändern wird. Da hat man oft schon morgens keine Lust, überhaupt erst etwas anzufangen.
Der Mann im karierten Hemd, den Frank Schinski in dieser Haltung fotografiert hat, trägt zudem eine Affenmaske, in die sich die Züge der Traurigkeit eingefräst haben. Er gehört zum Theaterkollektiv „Fenster zur Stadt“ in Hannover.
Sie hatten 2020 eigentlich zwei Projekte vor, die auf „die zunehmende Zersplitterung unserer Gesellschaft in Einzelinteressen, die Nöte der fortschreitenden Vereinsamung und die Chancen der Wiederentdeckung von Freundschaft, Gemeinsinn und Solidarität“ setzen wollten. Als daraus nichts werden konnte, haben sie wenigstens für das Internet ein „Ministerium der Einsamkeit“ geschaffen.
Das Porträt gehört zu den 56 Fotografien von Künstler:innen, die zurzeit als Plakate mit der Überschrift „Miss You“ im öffentlichen Raum (in Berlin, Hamburg und Baden-Baden) ausgestellt sind. Unter www.missyou.berlin kann man die Porträts ebenfalls sehen und nachlesen, wen man vor sich hat. Denn nicht alle sind als Gesicht so bekannt wie der Schauspieler Lars Eidinger, der in einem grasgrünen Anzug hinter einer pandemiegerechten Trennscheibe vorwinkt.
23 Plakate allein auf der Potsdamer Straße
Das Plakat in seinem natürlichen Habitat, der Straße, ist einem harten Konkurrenzkampf der visuelle Reize ausgesetzt. In Berlin laufe ich die Potsdamer Straße hoch bis zum Potsdamer Platz, am Ende habe ich 23 der Porträts gefunden. Das erste begegnet mir an der Bushaltestelle Ecke Pallasstraße: Da sitzt Cristina Gómez Godoy, Solo-Oboistin der Staatskappelle Berlin, einsam in einem Zuschauersaal.
Thomas Meyer, der wie alle Fotograf:innen der Aktion zur Ostkreuz-Agentur gehört, lässt die leeren roten Sessel um sie herum wie ein Meer der Stille erscheinen. Nahe dem U-Bahnhof Potsdamer Straße zieht Erika Ratcliffe, Standup-Comedien, ihren langen Kaugummifaden aus dem Mund vor den Auslagen eines Gemüsegeschäftes.
Susanne Rockweiler, die in Berlin acht Jahre lang als stellvertretende Direktorin des Martin Gropius Baus gearbeitet hat, ist die Initiatorin der Straßenausstellung. Die Firma Wall konnte sie als Partner gewinnen, sodass die Plakate an deren Werbeflächen zu sehen sind. Am Potsdamer Platz sind das mehrere Tafeln, die alle fünf Sekunden das Bild wechseln.
So sieht man zwischen den Porträtierten von Miss You weitere der Pandemie geschuldete Kampagnen, Aufforderungen zum Impfen und „Rettet unsere Läden jetzt“. Die Künstler sind nicht die Einzigen, die uns vermissen.
Jedes Bild erzählt eine Geschichte
Alle Beteiligten an Miss You, Fotograf:innen und Porträtierte, haben ein Honorar erhalten. Das war Susanne Rockweiler auch wichtig, weil damit die Aktion neben der symbolischen Geste, Verbindung zwischen Kunst und Publikum zu halten, auch konkret ein Auftrag war.
Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Das Brüderpaar Francisco & Xavier Sanchez Martinez erzeugt Verblüffung, weil sich die beiden nicht mehr jungen Männer so ähnlich sehen. Der eine, der gerade einen Teller abtrocknet, trägt einen Schottenrock. Dass sie Tänzer und Choreografen sind, könnte vielleicht das ausgestreckte Bein des anderen verraten.
Aber man kann sich in ihrer vollgekruschtelten Küche – und eben nicht im Studio – auch gut eine Szene aus einem Almodóvar-Film vorstellen, so viel Leben hat die Fotografin Stephanie Steinkopf in die Szene gepackt.
Rausgehen kann man, aber eben nicht „ausgehen“. Das Gefühl, zu Hause festgepflockt zu sein, transportiert das Doppelporträt von Children, den Musikerinnen Steffi Ferch und Laura Daede, die seit zehn Jahren Future Retro Pop machen. Ihre schlanken Gestalten wirken noch schmaler zwischen den vielen Jacken, zwischen denen Jörg Brüggemann sie fotografiert hat. Saugt das Zuhause sie langsam in sich auf?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos