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Kulturgut Live-TickerFeinstes Fabulieren über Fußball

Beim Lesen von handgefertigten Kommentaren zum Spielgeschehen im Netz geht unserem Autor einfach das Herz auf. Doch das Genre ist gefährdet.

„Mit Unterstützung der Latte“: Cristiana Girelli trifft zum 2:1 für Italien gegen Norwegen Foto: ap

So richtig weiß ich nicht, ob es immer noch eine nennenswerte Zahl von Menschen gibt, die ein Fußballspiel über das Lesen eines Live-Tickers auf einem News-Portal verfolgen. Wenn man unterwegs ist vielleicht. Bei der EM wird ja jedes Spiel gestreamt. Und falls man noch genug Datenvolumen hat, kann man sich’s ja einfach anschauen. Die spezielle Ticker-Prosa bleibt einem dann allerdings verborgen.

„Dort stiehlt sich Girelli im Rücken von Reiten weg und köpft aus gut drei Metern mit der Unterstützung der Unterkante der Latte das 2:1“, war auf kicker.de über das entscheidende Tor der Italienerinnen in ihrem Viertelfinale gegen Norwegen zu lesen. Da wäre es doch direkt schade, wenn man zu diesem Text die Bilder sehen würde. So hat man die Möglichkeit, sich auszumalen, wie es wohl aussehen mag, wenn eine Fußballerin den Ball mit der Unterstützung der Unterkante der Latte einköpft. Hat sie sich vielleicht mit einer Art Klimmzug an der Latte hochgehievt? Aber warum ist dann von der Unterkante der Latte die Rede. Wie kann man die bei einem Kopfball zu Hilfe nehmen?

Ein einziger Satz in einem Live-Ticker kann das ganz große Kopfkino starten. Vielleicht ist es ja wirklich diese wunderbare Ticker-Sprache, die geschätzt wird. Sie wirkt menschengemacht. Oder würde ein KI-Tool wirklich so etwas schreiben? „Aus fünf Metern lässt sich Schalkes Top-Stürmer natürlich nicht zweimal bitten.“ Okay, hier geht es offensichtlich nicht um die EM. Es geht um schnöden Männerfußball.

Mit Schalke in Tirol

Das Regionalportal derwesten.de hat jemanden mit dem Zweitligisten Schalke 04 ins Trainingslager nach Tirol geschickt. Der Live-Ticker vom Testspiel gegen St. Gallen darf da nicht fehlen. „Hamache dribbelt durch die gesamte gegnerische Hälfte, tanzt im gegnerischen Strafraum noch zwei Spieler aus – und scheitert dann an der Fußspitze des gegnerischen Keepers.“ So schade das für Schalke sein mag, dass aus der Szene kein Tor entstanden ist, so wunderbar ist sie beschrieben.

Das Portal hat noch mehr zu bieten. Es begleitet auch den VfL Bochum durch die Saisonvorbereitung. „Das 1:0 für die Mannheimer geht in Ordnung, ein 1:1 wäre aus Bochumer Sicht aber ebenso in Ordnung gegangen“, lerne ich und habe beinahe ein wenig Mitleid mit dem Tickerer. Der muss eine Einwechslung nach der anderen vermelden. Da bleibt kaum Zeit für lesenswerte Tickerlyrik. Immerhin stellt er fest, dass Dieter Hecking nach dem soundsovielten Wechsel auf ein 4-3-3-System umgestellt hat. Welches System er vorher hat spielen lassen, steht leider nirgends.

Das enttäuscht mich dann doch. So wie es mich enttäuscht, dass es keinen ausformulierten Live-Ticker vom Rückspiel der ersten Runde der Qualifikation zur Männer-Champions-League zwischen Dynamo Minsk und Ludogorez Rasgrad gibt. Da gibt es nur irgendwelches KI-Zeugs mit den Spieldaten.

Ist das wirklich die Zukunft der Live-Tickerei? Ich möchte es nicht glauben und erkläre das Tickern hiermit zum schützenswerten Kulturgut.

*Nur etwas Kleines

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1 Kommentar

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  • Oder man hätte sich ein Fußballspiel im so genannten Radio mal angetan.



    Bevor Rüttenauer diese seine Erkenntnis ins Isargebäude des Europ. Patentamts tragen sollte.