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Kulturgeschichte des Italo-House-SoundsDekadenz in Azurblau

Dolce Vita auf dem Dancefloor. Wie die italienischen Clubsounds zwischen Adria und Mittelmeer klingen und warum sie gute Laune machen.

Italo-Opulenz trotz Corona: Szene aus dem Club „Villa delle Rose“ in Rimini Foto: Max Cavallari/getty

In Italien ist Clubmusik schon seit der klassischen Ära von Disco in den 1970ern integraler Bestandteil von la dolce vita. Seit damals wird mit offenen Armen empfangen, was von den nordamerikanischen Metropolen herüberschwappt. In Italien wird der musikalische Input mit elastischem Verhältnis zu Urheberrechten in etwas umgedeutet, das dem Lebensgefühl an Adria und Mittelmeer eher entspricht.

Kopieren lohnt sich künstlerisch und vor allem kommerziell. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert: Der lockere Umgang der Italiener mit Originalmaterial ist kreativ und zugleich berüchtigt, unzählige halbseidene Coverversionen und Bootlegs zeugen davon.

Man muss aber ebenso konstatieren, dass stets etwas Originäres dabei entstanden ist. Italo-Disco-Musik der achtziger Jahre ist das Kardinalbeispiel hierfür. Was zunächst in Resteuropa noch als billige Plastikversion von Disco verschrien war und als Musik, zu der eher die Jugendlichen aus einfachen Verhältnissen in der lokalen Diskothek den Disco Fox tanzten, mutierte schnell zu einem internationalen Einfluss mit erstaunlicher Langlebigkeit und Hipness-Faktor.

Unbedarfter Charme und Innovationsfreude

Nichts und niemand darf das pompöse Gesamtbild von Italo House mit kleinen Gesten und kleinen Ansprüchen verunreinigen

Ein Grund dafür ist sicherlich der unbedarfte Charme der italienischen Musik, ein anderer ist aber auch die Innovationsfreude ihrer Produzent:innen. So verwundert es nicht, dass die Pioniertage von House Music ab Mitte der 1980er in Chicago und Detroit gespickt waren mit Importplatten aus Italien, die in den Playlists wichtiger US-Radiosender und den entsprechenden Clubs tiefe Spuren hinterlassen haben. Es gelangte quasi etwas in die USA zurück, das sich sehr von dem unterschied, was man zuvor nach Europa exportiert hatte.

Und mit House entlässt man dann abermals eine gewichtige neue Komponente in das Nachtleben der Alten Welt, und wieder wurde sie gerade in Italien besonders schnell begeistert verarbeitet. Die Genese von Italo House ab Ende der 1980er folgt dabei den bewährten Mustern der Jahre zuvor, was nicht weiter verwunderlich ist, denn viele Protagonisten, wie etwa Ricky Montanari und Claudio Rispoli alias Moz-Art waren als DJs und Produzenten schon seit der Disco-Ära aktiv und gingen bei der Adaption von House ähnlich zweckorientiert vor.

Äußerst hilfreich war, dass die italienische Musikindustrie über Jahre Import- und Exportstrukturen aufgebaut hatte, mit der man in Sachen der schnelllebigen Clubmusik stets vorneweg war. Der erste italienische House-Track, der über die Landesgrenzen hinaus Tanzflächen eroberte, ist „Ride on Time“ von Black Box.

Dreist zusammengeklaubt

Seine Musik funktioniert vor allem so gut, weil sie dreist Bestandteile zusammenklaubt, die sich schon vorher bestens bewährt haben. Man kopierte die einprägsamen Pia­no­ak­korde und synthetischen Grooves der frühen US-House-Produktionen wie etwa von Marshall Jeffersons „Jungle Wonz“ und stellte ein Model ans Mikrofon, welches in Videoclips und Playbackauftritten zu der ungefragt übernommenen Originalstimme von Loleatta Holloways Disco-Klassiker „Love Sensation“ (1980) mimt.

Wie man damit durchkommen kann, obwohl der Song zu einem beträchtlichen Hit wurde? Ganz einfach, „Ride on Time“ klingt derart umwerfend, dass man erst viel später Fragen wegen Plagiatsvorwürfen stellte.

Das Erfolgsrezept ist so simpel wie effizient. Instinktsicher werden die nachhaltigen Elemente des Originals isoliert, die auf der Tanzfläche Ekstase auslösen, produziert sie ekstatischer, aber auch gefälliger und lässt ordentlich mediterrane Sonnenwärme rein. Dann werden etliche Veröffentlichungen nachgeschoben, die mehr oder weniger nach dem gleichen Muster funktionieren, und schon bald hat man ein eigenes Genre erschaffen, dass sich bis heute ungebremst in zahllosen Variationen zwischen Eurodance, UK Breakbeats und balearischen Großraum-Clubhits fortpflanzt.

Außenpools mit Panoramablick

Italienische Clubmusik muss im großen Rahmen funktionieren, was durchaus ein wichtiges Kriterium ist, denn italienische Clubs sind in der Regel groß. Sehr groß. Sie zeugen von einer langen, stolzen Tradition der Dekadenz und Maßlosigkeit, des ganz breiten Pinselstrichs inklusive Stuck-Säulen auf der Tanzfläche, Außenpools mit Panoramablick und absurden VIP-Bereichen. Man kann diese Etablissements vom Weltall aus erkennen, und den Autokorso dorthin auch.

In solchen Clubs muss der DJ klotzen, und nicht kleckern. Nichts und niemand darf das pompöse Gesamtbild mit kleinen Gesten und kleinen Ansprüchen und kleiner Kunst verunreinigen. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Die für Italo House maßgeblichen und größtenteils an der italienischen Riviera ansässigen Clubs wie „Ethos Mama“, „Diabolik’a“, „Vae Victis“, „Cocorico“ und „Peter Pan“ haben eine Kapazität im großzügig drei- bis vierstelligen Bereich: Podest-Tänzer:innen, MCs und DJs, die sich keine Fehler erlauben können. Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass der Sound in der Blütezeit von Italo House ab 1990 nicht so klingt, als müsste er erheblichem kommerziellen Druck standhalten.

An Italo House kann man sicherlich die wichtigen Evolutionsstufen der internationalen House Music ablesen, und die erste Zündstufe Ende der 1980er Jahre ist eine Sturm-und-Drang-Phase, in der bedingungslose Euphorie und Pianos regierten. Der wirklich kreative Schwung setzt aber um 1990 ein, als in den USA der House-Sound deeper wurde.

Versonnene Musik

Die italienischen DJs und Produzenten mussten ein gehöriges Erweckungserlebnis gehabt haben, als etwa Larry Heard und Marshall Jefferson versonnenere Tracks produzierten oder etwas später in New York auf dem wichtigen Label-Triumvirat Strictly Rhythm, Nu Groove und Nervous Tracks von Wayne Gardiner, Gijo Rosario, Ronald & Rheji Burrell und Roger Sanchez veröffentlicht wurden.

Diese Musik postuliert eine deutliche Abkehr von funktionalen Tanzflächen-Imperativen. Italo House ist introspektiv, mit sanft pulsierenden Grooves und vor allem mit bittersüß-emotionalen Flächen ausgestattet und wird alsbald als Ambient und Mellow House in den Kanon aufgenommen. Bereits 1989 schickten Angelo Albanese und Massimino Lippoli den sich sehr großzügig bei Manuel Göttschings „E2-E4“ bedienenden Clubhit „Sueño Latino“ auf den Weg.

Eine Blaupause für italienische House-Produktionen, mit denen sich jeder Club in eine weltumarmende Utopie von Glückseligkeit mit Meerblick verwandeln lässt und jeder urbane Alltagskampf inmitten weniger azurblauer Umgebungen augenblicklich in Vergessenheit gerät. In den Studios arbeiten nun beispielsweise Carlo Troya alias Don Carlos, Claudio Coccoluto und Enrico Mantini an Musik, die sich anhört wie ein Sprung ins glitzernde Wasser eines sonnendurchfluteten Swimmingpools.

Es wartet der nächste Drink

Und wenn man am anderen Ende wieder auftaucht, sieht man schöne Menschen in luftiger Bekleidung und schweißtreibenden Bewegungen, und da kommt auch schon der nächste Drink. Die meisten Italo-Produzenten sind erfahrene DJs, sie wissen genau, was sie selbst wollen, und vor allem, was ihr Publikum will. Und dafür ist jedes Mittel recht.

Auf Labels wie Irma, Palmares, DFC, UMM und Calypso zelebrieren sie eine hemmungslose Opulenz, die bis knapp vor die Kitschgrenze stößt, die Pianos sind immer noch prominent im Mix, bloß etwas weicher gestimmt, gesampelte oder eingesungene Stimmen vermitteln Botschaften von Liebe und Zusammenhalt, die gleichermaßen wahrhaftig wie gelogen sind, und über allem thronen die wärmsten und weichsten Flächen, in die man sich jemals hat reinfallen lassen können.

Es gibt kaum Clubmusik, die mehr Eskapismus und Hedonismus ausstrahlt, mehr Harmonie anbietet und mehr Glück verspricht als Italo House in den 1980er und frühen 1990er Jahren. Aber die Realität hat noch längst jede Illusion zur Strecke gebracht, und Italo House erging es nicht anders. Viele Prachtclubs an der Adria wirkten irgendwann wie Relikte und mussten schließen. Tän­ze­r:in­nen brauchten andere Attraktionen, Clubkultur wollte mit neuen Trends gefüttert werden, DJs und Produzenten wollten sich nicht länger wiederholen.

Die Spuren sind dennoch nicht mehr zu tilgen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Revival-Zyklen wieder bei Italo House gelandet sind. Im Internetzeitalter ist eine musikalische Stilrichtung schnell erschlossen und über virtuelle Verkaufsportale verfügbar, und so treibt mittlerweile eine junge Generation die Gebrauchtpreise der Originale in den Bereich des Irrsinns, veröffentlicht aber auch Legendäres und Vergessenes neu. DJs, Produzenten und Publikum verfallen wieder den bewährt verführerischen Reizen dieser Musik.

Und es gibt auch wieder haufenweise aktuelle Produktionen, die den Faden da aufnehmen, wo man ihn Mitte der 1990er Jahre hat fallen lassen, mit frischen Ideen und modernen Mitteln. Etwa von den norwegischen Künstlern Skatebård und DJ Fettburger und vom italienischen Produzenten Cosmic Garden (Nicola Loporchio). Das Leben wird nicht einfacher, die Sorgen werden nicht weniger, und dann kann man auch ruhigen Gewissens zu bewährten House-Mitteln greifen.

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