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Kultur und LockdownDie Neuerfindung des Kinos

Kommentar von Georg Seeßlen

Viele Kulturstätten waren schon vor der Krise in der Krise. Für das Lichtspielhaus wird es nach dem Lockdown keine Rückkehr zur Normalität geben.

Foto: Thomas Peter/reuters

W enn es wirklich mal so etwas ­geben sollte wie eine „Rückkehr zur Normalität“, dann gibt es ein paar Orte, an die wir unbedingt gleich nach Corona wieder kommen wollen. Der Club, der Biergarten, das Schwimmbad, das Theater, das Café, die Galerie. Und das Kino. Unbedingt das Kino. Zu allen diesen Orten werden wir eilen mit der bangen Frage: Gibt es das noch? Haben die Betreiber durchgehalten?

Gibt es die neue Musik, die neuen Stücke, die neuen Gespräche, die neuen Bilder, die neuen Filme, die nicht so tun, als wäre nichts passiert, sondern Krisenbewusstsein und Neubeginn verbinden? Und gibt es überhaupt „uns“ noch, ebendiese realen und imaginären kulturellen Gemeinschaften, die dieses Gefühl erzeugten: Zusammen. Zusammen ins Theater, zusammen in die Kneipe, zusammen ins Kino.

Die meisten dieser Sehnsuchtsorte, an denen wir nach Corona wieder gesellschaftlich wahrhaftig vorhanden sein wollen, waren schon vorher in der Krise, in Absatz-, Sinn- und Organisationskrisen, manche waren schon an die Krise als Dauerzustand gewöhnt. Das Kino beispielsweise. Die Pandemie und die Lockdowns haben es besonders schwer getroffen. Kinos sind drei Institutionen in einem:

Ein wichtiges Glied in der Vermarktungskette von Filmen. Damit sind sie sowohl technisch-ästhetisch als auch ökonomisch von Bedeutung. Ein großer Film gehört ins Kino, basta. Kino ist auch öffentlicher Raum der kulturellen und sozialen Begegnungen und eines Gemeinschaftsempfindens. Es spielt daher eine im weiteren Sinne politische, urbanistische und soziologische Rolle. Kino ist so viel mehr als nur der Film!

Es ist ein Wirtschaftsbetrieb mit Arbeitsplätzen, der sich auch belebend auf die Gastronomie nebenan auswirkt. Es sprechen ökonomische und soziale Argumente für es. Kinos sind systemrelevant. Und was ist liebenswerter als Menschen, die für Film und Kino leben.

So viel mehr als nur der Film

Was gegen Kinos spricht, ist schlicht das Ausbleiben des Publikums, die Investitions- und Rendite-Fallen, die Entwicklung des wild gewordenen Immobilienmarktes in den Städten, die Politik der oligopolen Produzenten für den globalen Bildermarkt, denen das Kino als eigenständige Instanz ein Dorn im Auge ist, und eine extreme Abhängigkeit von Event-Filmen, die ein jeweils spezielles Publikum generieren.

Das Ausbleiben eines neuen Bond, eines neuen Superhelden, eines neuen Pixar-Films wirkt sich hier ruinös aus. Seit den sechziger Jahren ist das Kino in den USA und in Europa zu einer ständigen Neuerfindung gezwungen mit Kino-Palästen, Schachtelkinos, technischen Aufrüstungen.

Jede Transformation zieht Veränderungen im Publikum nach sich, zwischen Jung und Alt, Frauen und Männern, Mainstream und Diversity. Boom und Baisse wechseln aber nicht nur in der Historie der Institution, sondern auch unter den unterschiedlichen Kinematografien. Vielleicht bemerken wir im Lockdown einmal etwas direkter, dass wir uns mitten in einer Transformation des Kinos befinden. Sowohl in den Multiplexen als auch in den Programmkinos.

Der „Onlinekapitalismus“ hat kein Interesse an der Erhaltung der Kinos: Sie stören nur bei der Herstellung vertikaler Oligopole und bei der Festigung der Macht der verbliebenen fünf bis sechs großen Bildfabriken, die entweder die Kinos zu ihren Verleihbedingungen zwingen oder selbst übernehmen; der Immobilienmarkt hat kein Interesse an der Erhaltung der Kinos; das Feuilleton hat kein Interesse an der Erhaltung der Kinos, höchstens als Festivalorte für den Eventjournalismus; die „Partner“ vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen haben wenig Interesse an der Erhaltung der Kinos.

Bildschirm statt Leinwand

Im Abwehrkampf gegen die geballte Macht von Konservativen, Populisten und beinhart neoliberalen Allesprivatisierern haben sie nicht mal mehr Restkräfte für Filmkultur; die Kulturbürokratie macht Dienst nach Vorschrift bei der Erhaltung der kommunalen Kinos und Filmmuseen. Und wir? Die wir den Sehnsuchtsort Kino in der Pandemie immer wieder ganz nach vorn gebracht haben in den üblichen Mangellisten?

Wir, die wir uns an das Filmsehen an unseren Bildschirmen gewöhnt haben und eigentlich wissen, dass unsere Kino-Sehnsucht schon mehr Nostalgie als kulturelle Praxis beinhaltet … Die Krise aber hat nicht nur den Weg zum Publikum verändert, sondern auch die Produktion selbst. Viele Produktionen, vor allem die großen Prestige-Produktionen, kommen ins Stocken. Schon kommt die Hoffnung auf, dass die Krise die Chancen für kleine, intime und aktuelle Produktio­nen erhöhe.

Zu den Nebeneffekten gehört auch, dass eine Spielfilmproduktion in der Pandemie erheblich mehr gefährdet ist als ein Dokumentarfilm. Die Produzenten müssen offenbar lernen, unter erschwerten Bedingungen zu arbeiten, weniger Aufwand zu betreiben, kleinere Teams zu bilden. Das kann sich für die Zukunft durchaus als heilsam erweisen, wirkt aber auch zurück auf die Produktionsbedingungen. So ist es absehbar, dass der Unterschied bei den Budgets noch gravierender wird.

Gigantische Produktionen für den Weltmarkt, die mit größtmöglicher Delegation arbeiten und immer reduziertere lokale und nationale Produktionen, bei denen die Reduktion zur neuen Norm wird. Das könnte wiederum bedeuten, dass die Produktion insgesamt verlangsamt wird, was einerseits eine neue „Philosophie“ des Films werden könnte – slow filming –, andererseits aber auch eine Reduzierung der Produktion selbst, also weniger Arbeit und weniger Möglichkeiten für die einzelnen Filmemacher*innen.

Weder für das Filmemachen noch für die Kinos wird es ein Zurück zur Normalität geben. Wenn man das Kino heute abschaffen würde, so hat es Wim Wenders trostvoll gemeint, dann würde es morgen sofort wieder erfunden. Diese Neuerfindung des Kinos ist nun auf der Agenda. Es muss als architektonischer, als sozialer und als ästhetischer Raum neu erfunden werden.

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1 Kommentar

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  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Ich lese sehr gern, was Georg Seesslens schreibt, allerdings bin ich der Konzertmensch.



    Ich würde gern mit Begeisterung ins Kino gehen, aber ich kann nicht räumlich sehen und sehe vor allem mit dem linken Auge. Wenn die Leinwand zu groß ist, habe ich am Ende des Films Kopfschmerzen.



    Allenfalls gehe ich also in sehr kleine Kinos und davon gibt es immer weniger. Dafür freue ich mich umso mehr, wenn der Konzertbetrieb wieder anfängt. Normalerweise gehe ich ungefähr einmal die Woche ins Konzert oder kümmere mich um die Tontechnik.



    Vielen Konzertstätten wird es nicht viel besser gehen als den Kinos. Zum Glück gibt es in Leipzig genügend autonome Kulturstätten, die nicht gleich in Existenzgefahr sind, wenn mal eine Weile kein Geld reinkommt. Es gibt schließlich viel weniger finanzielle Verpflichtungen und für schlechte Zeiten wurde sowieso was zurückgelegt.



    Vereine, die ein Haus gekauft haben oder es in Erbpacht betreiben und wo die Kulturveranstaltungen (hauptsächlich) von Freiwilligen betreut werden, sind da klar im Vorteil gegenüber privatwirtschaftlichen Kultureinrichtungen.



    Keine der Konzertstätten, in denen ich aktiv bin, musste bisher Spendenaufrufe starten oder Eintrittskarten für Konzerte verkaufen, die erst stattfinden, wenn die Corona-Situation es wieder zulässt. Wir müssen uns in der Programmauswahl auch nicht den Zwängen beugen, die die Kulturindustrie erst erzeugt hat (wie bei den ewig sich wiederholenden Bond-, Fast & Furious- oder Superheldenfilmen) und haben keine Schulden angehäuft.



    "Da war der Kanzler so gerührt



    Er hat dem Manne gratuliert



    Und's Parlament ging ohne Widerspruch nach Haus'!



    Und nun war'n alle Menschen gleich



    Weil alle arm war'n, war'n sie reich



    Und mit der Zeit hat sich gezeigt



    Das zahlt sich aus.!"



    Georg Kreisler - Wenn's nicht wahr ist



    www.youtube.com/watch?v=dxA0QiQKehM