Kultur in Deutschland nach der Pandemie: Kein Land für Dichter
Erst eingeengt, dann lahmgelegt und für überflüssig erklärt. Der Aktionismus nach Corona rettet die Kultur nicht. Nötig sind langfristige Strategien.
D as kulturelle Leben wurde über ein Jahr lang abgesagt. Zugegeben, es hagelte Milliardenhilfen, vor allem für die feinen Kulturhäuser in ehrwürdigen Bauten. Doch die Deutschen haben in den letzten Monaten gemerkt: Es geht auch ohne Kunst! Was heißt es, wenn Kunst als überflüssig erklärt wird, wenn es jenseits von Streamingdiensten immer weniger Angebote gibt, um Geschichten über das menschliche Dasein zu erkunden?
Das kulturelle Leben stand in Deutschland selbst dann noch still, als in Städten wie etwa Barcelona Konzerte unter hohen Auflagen wieder stattfanden, begleitet von Studien, die auch anderen Ländern zeigten: Kulturevents sind möglich, wenn man sie gut organisiert. Warum sorgten spanische Behörden trotz vergleichbarer Infektionszahlen für Veranstaltungen, während hier alle in die brave Warteschleife mussten?
In politischen Reden wird gerne der ominöse „Zusammenhalt“ beschworen, die Notwendigkeit, Gräben zu überwinden – doch warum ermöglicht man dann nicht so schnell wie möglich wieder gemeinsame ästhetische Begegnungen? Das Lahmlegen des Kulturbetriebs war als Maßnahme eine Zeit lang sinnvoll, doch hätte man – angesichts der Milliarden, die ausgeschüttet wurden – zugleich sicherstellen müssen, dass die Kultur trotz der Schließungen Teil des Alltagslebens bleibt.
Man stelle sich vor, Millionen Deutsche hätten statt der Hundertsten Rate- und Nostalgiesendung mit B- und C-Promis eine Theaterpremiere, ein Konzert oder eine Buchvorstellung gesehen! In Frankreich wurde ein neuer TV-Sender ins Leben gerufen: „Culturebox“. Sieben Tage die Woche werden Konzerte, Schauspiel- und Fernsehaufnahmen ausgestrahlt. In Frankreich gab und gibt es Büchersendungen, in denen Autoren mit ihren Büchern zu Gast sind und über ihre Bücher sprechen dürfen statt mit Politikern und über Debattenblabla.
In Paris geht es schließlich auch
Ich habe wirklich keine Lust mehr auf dieses „In Frankreich geht das, weil …“, wenn es sich um kulturelles und intellektuelles Leben dreht. Der Aachener Vertrag, den Merkel und Macron unterzeichnet haben, hat nun zur Errichtung des „Kultur Ensemble“ in Palermo geführt, aber der Austausch müsste viel breiter und weniger elitär angelegt werden: Wie kann Deutschland von Frankreich lernen, wenn es um den Stellenwert von Kultur und kultureller Bildung geht?
ist Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin. Sie lebt in Heidelberg und ist Mitglied des PEN-Zentrums. Ihr letztes Buch „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“ erschien 2019.
In Frankreich schlossen die Schulen nur in den schlimmsten Phasen der Pandemie, Kindern Bildung vorzuenthalten galt als letzte Maßnahme; in Deutschland hingegen richtete man sich darin ein, die Kinder zu Hause zu lassen, von den familienpolitischen Klischees dahinter ganz zu schweigen. Für Kinder aus bildungsfernen Schichten bedeutete das 15 Monate ohne Kulturvermittlung.
Wenn die Regierung Milliarden ausgibt für die Kunst, warum hat sie nicht Plattformen gefördert, die Zugänge zur Kunst auch in Zeiten der Ausgangsbeschränkungen ermöglichen? Kultur, Wissenschaft oder Zivilgesellschaft wurden schon vor Corona in Deutschland durch bürokratische Vorgaben und Strukturen gefördert und behindert zugleich. Bereiche der Gesellschaft, die für Eigeninitiative und den freien Wissensaustausch stehen, werden so domestiziert und gesteuert. Seit Anfang 2020 stand die Kultur still, die Zivilgesellschaft und die Universitäten arbeiteten nur online, Letztere bis heute.
Die gesellschaftlichen Folgen dieser Maßnahmen werden zwar immer häufiger thematisiert – doch was heißt das konkret für die Zukunft der Kulturpolitik? Schon 2009 gab es eine Enquetekommission, die forderte, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Nach Corona, im Jahr 2021, kommt so eine Forderung natürlich per Petition. „Kultur ins Grundgesetz.“ Die Petition könnte genauso erfolglos bleiben wie damals die Kommission.
Kultur ins Grundgesetz
Die Öffnungen allein werden die Probleme nicht beheben. Der Aktionismus der Kulturbranche wird eine pandemiemüde Bevölkerung jetzt eher überfordern. Die Mittel, die jetzt in Schnellprogramme fließen, wären besser in einer 10-Jahres-Strategie aufgehoben und in jenen Kulturprogrammen im Radio und TV, die man im letzten Jahr absurderweise fleißig gestrichen hat.
Warum war gerade das kulturelle Angebot so verzichtbar? Warum ist diese Art der Geistesaktivität nicht wichtig genug, um sie auf alternativen Wegen zu sichern? Das grundlegende Gespräch über die Kulturpolitik in diesem Land sollte jetzt beginnen. Wann und in welchen Foren soll darüber geredet werden, was Kunst bedeutet und welchen Raum sie braucht, um eine Rolle für diese Gesellschaft zu spielen, eine Rolle, die über ein bürgerliches Theater-Abo und einen Museumsbesuch bei Städtereisen hinausgeht?
Das einzige Mal, dass Künstlerinnen in diesem pandemischen Jahr öffentlich hörbar wurden, war die verunglückte Aktion #allesdichtmachen. Innerhalb von wenigen Tagen war jedoch auch aus dieser Aktion eine der tausend Diskussion über Meinungs(un)freiheit, rechtsextreme Strippenzieher und die öde Leier von der Spaltung der Gesellschaft geworden.
Ein langes Jahr lang wollten sich die meisten Künstler eben nicht öffentlich beschweren, auch weil es in den sozialen Medien schnell zu Selbstmitleid verzerrt wurde: Ach, diese Künstler! Ihre Kunst und Selbstbezogenheit ist ihnen wichtiger als der Schutz des Lebens. Darin zeigte sich auch das vorherrschende Künstlerbild in diesem Land: Die egoistischen Selbstverwirklicher!
Während Mitarbeitende in Großraumbüros für ihre Arbeit lange nicht einmal zu Tests verpflichtet werden durften, während in zahlreichen Branchen „aus beruflichen Gründen“ weltweit gereist und zurückgekehrt werden durfte, blieben die Künstler still und zu Haus. Die Künstler sind keine guten Anwälte für die eigene Sache. Einige Kulturfunktionäre fordern daher ein Ministerium für Kunst und Kultur. Klingt zwar wieder nach Bürokratie, doch ein Anfang wäre es.
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