Kultdichter Rolf Dieter Brinkmann: Der Popliterat als deutsches Genie
„Westwärts 1 & 2“ von Rolf Dieter Brinkmann erscheint neu. Flankiert wird das Werk von der ersten Biografie über den umsrittenen wie herausragenden Lyriker.

Als Rolf Dieter Brinkmann seinen legendären Gedichtband „Westwärts 1 & 2“ zusammenstellte, war er total abgebrannt. Die Zahlungsbefehle häuften sich im Winter 1974/75, ihm drohte Beugehaft. Die letzten Jahre hatte der 34-Jährige von BAföG gelebt. Jetzt stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür und zog für das Studentenwerk 990 DM ein. Seine Frau Maleen wurde dabei erwischt, wie sie ein Paar Handschuhe für 9,80 Mark klaute. Es kam zu einem Prozess, sie fürchtete, als Vorbestrafte später keine Anstellung mehr im Staatsdienst erhalten zu können.
Rolf Dieter Brinkmann: „Westwärts 1 & 2“. Gedichte. Erweiterte Neuausgabe. Rowohlt Verlag, Hamburg 2025, 448 Seiten, 52 Euro
Michael Töteberg, Alexandra Vasa: „Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2025, 397 Seiten, 35 Euro
Ein kleiner Lichtblick war da die Einladung zu einem Poesiefestival nach England. Zusammen mit seinem Kollegen Jürgen Theobaldy streifte Brinkmann durch London. Ohne auf den dortigen Linksverkehr zu achten, wollte er die Straße überqueren und wurde sofort von einem Auto erfasst. Es ist dieser frühe, plötzliche Tod, kurz vor dem einsetzenden Ruhm, der Brinkmann zu einem Mythos machte. „Westwärts 1 & 2“ wurde zu einem poetischen Monument. Brinkmann stand damit unwillkürlich in einer Reihe mit Büchner oder Kleist. Und in den 1970er Jahren kam noch etwas anderes dazu. Die Rockmusik akzentuierte den frühen Künstlertod ganz neu, und Brinkmann hatte sofort darauf reagiert: „Jimi Hendrix an der / eigenen Kotze in einem / Hotel in London // erstickt, Brian Jones / schwimmt im Planschbecken / seines Landsitzes kühl // und ohne Gefühl.“
Michael Töteberg gibt jetzt, 50 Jahre danach, „Westwärts 1 & 2“ neu heraus und zeichnet die chaotische Entstehungsgeschichte nach, der Band erschien in einer erheblich reduzierten Form. Brinkmann wollte an die Schönheit einfacher Popsongs anknüpfen, aber er versah dies mit einer ästhetischen Eigendynamik, mit emblematischen Versen wie „Wer hat gesagt, daß sowas Leben / ist? Ich gehe in ein / anderes Blau.“
Briefe an Maleen
Töteberg hat festgestellt, dass es im Nachlass etliche Gedichte gibt, die es auch nicht in die erste erweiterte Ausgabe von 2005 geschafft hatten. In einem Anhang fügt er 27 neue Texte hinzu, aber es ist erkennbar, dass noch viel Arbeit auf zukünftige Philologen wartet. Die Brinkmann-Rezeption genauso stark beeinflussen wird das zweite Buch, das zum Jubiläum – 85. Geburtstag am 16. April, 50. Todestag am 23. April – erscheint: Töteberg legt zusammen mit Alexandra Vasa die erste Biografie des Autors vor. Daran hatte sich bisher niemand gewagt.
Brinkmanns junge Witwe Maleen hütete den Nachlass sehr streng, angesichts des exzessiven Charakters ihres Mannes mit gutem Grund. Es gibt in der Biografie jetzt einige, wenn auch eher periphere Zitate aus Briefen Brinkmanns an Maleen und daneben eine weitere neue Quelle: Briefe Brinkmanns an seinen Freund Henning John von Freyend von der Kölner Künstlergruppe „Exit“, zu der Brinkmann Ende 1968 stieß. Hier zeigt sich viel von dem Getriebensein und Kunstverständnis des Dichters.
In der Biografie wird von Anfang an deutlich, wie sehr Brinkmanns Leben auf die Literatur hinauslief und wie stark er, durchaus bewusst, an die deutsche Tradition des Dichtergenies anknüpfte. In der Schule war er schlecht. Doch bereits als 17-Jähriger schrieb er an den Verleger Peter Suhrkamp und bezeichnete sich als „Sprecher seiner Generation“, genauso wie der junge, schwerkranke Kriegsheimkehrer Wolfgang Borchert mit seinem Drama „Draußen vor der Tür“, wo der Protagonist den mitleidlosen Mitmenschen sein Schicksal entgegenschleudert. Als eine Schülergruppe 1957 in Vechta das Stück aufführte, spielte Brinkmann wie zwangsläufig die Hauptrolle.
Zu seiner Heimat, dem südoldenburgischen Schweinemastgebiet, pflegte Brinkmann eine Hassliebe. Das gilt auch für das Verhältnis zu seinem kleinbürgerlichen Vater. Nach langem Hin und Her fand dieser für den Sohn eine Ausbildungsstelle in einer katholischen Buchhandlung in Essen. Der junge Brinkmann versuchte unermüdlich, seine Texte unterzubringen. Er zog nach Köln und überzeugte einen jungen Buchhändlerkollegen davon, einen Gedichtband von ihm zu drucken. „Ihr nennt es Sprache“ erschien im Oktober 1962 im Verlag Klaus Willbrand, Leverkusen. Etwas verdutzt stellt man fest, dass die Biografen auf die fulminante späte Karriere dieses Klaus Willbrand wohl nicht mehr eingehen konnten: Willbrand, der vor Kurzem im Alter von 83 Jahren starb, ist genau jener Antiquar und „Bookfluencer“, der auf Tiktok und Youtube mit seinen Buch-Videos Hunderttausende von Followern erreichte.
Eine vergleichbare Blitzkarriere absolvierte Brinkmann in den sechziger Jahren selbst. Sein Freund Ralf-Rainer Rygulla war für drei Jahre nach London gegangen, lernte dort die zeitgenössische amerikanische Popliteratur kennen und infizierte Brinkmann damit. Hier fand der Dichter seinen Ton, etwas Unbändiges und Radikales, vor allem auch sexuell Entfesseltes, das sich mit seinem zutiefst deutschen Herkommen aus Vechta mit Pinkel und Schweinenacken zu einer explosiven Mischung verband. Die umtriebige Zeit Ende der sechziger Jahre wird in der Darstellung dieser Biografie äußerst lebendig: etwa die kurzlebigen Aktionen der Kölner Künstlergruppe „Exit“ mit den 68er-Studenten, mit deren politischen Vorstellungen Brinkmann aber nichts zu tun haben wollte, oder die gemeinsamen Projekte mit Peter Handke im Gestus der Revolte.
Der Maschinengewehr-Ausfall
Und auch die berühmte Szene in der Westberliner Akademie der Künste vom November 1968 wird detailliert geschildert. Brinkmann sagte dort nach einer Bemerkung des altehrwürdigen Kritikers Rudolf Hartung: „Sie wollen mich in dieser Situation zu einer Differenzierung nötigen. Über Differenzierung ist alles erstarrt worden, über Differenzierung kommt man zur Versöhnung. Es geht nicht um Differenzierung, es geht vielleicht gar nicht um Literatur. Ich müsste ein Maschinengewehr haben und Sie über den Haufen schießen.“
Dieser Moment stand sofort sinnbildlich für Brinkmann, für sein wütendes Um-sich-Schlagen und für seine Ausfälle. Seine sanfte Seite, die er literarisch gelegentlich zelebriert, blitzt auch auf, wird aber sehr sachlich eingeordnet. In der komplizierten Beziehung zu Maleen spielte Robert, das geistig behinderte Kind der beiden, eine große Rolle. Die Biografen deuten an, dass am Ende eine Trennung im Raum stand und Brinkmann wohl schon eine neue Frau ins Auge gefasst hatte.
Während des Stipendiums in der Villa Massimo in Rom entstand das fulminante Nachlass-Werk „Rom, Blicke“. Töteberg und Vasa relativieren einige oberflächliche Lesarten und weisen auf Brinkmanns Stilisierungen hin. Im „Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End“, das zuerst als Hausdruck der Villa Massimo erschien, handhabte er das durch William S. Burroughs inspirierte Cut-up-Verfahren so virtuos wie sonst nirgends. Und obwohl er seine Ästhetik immer mehr zu erweitern suchte und mit visuellen Reizen und Klängen experimentierte, lief der Rom-Aufenthalt auf etwas ganz anderes hinaus. In den letzten Wochen begann Brinkmann wieder Gedichte zu schreiben, es sind die ersten für „Westwärts 1 & 2“. Dass er sich von der US-amerikanischen Pop-Pose entfernen wollte, die für ihn längst langweilig geworden war, zeigt sich in einigen Details. So bezeichnete er Bernd Brummbär, den Herausgeber der deutschen Ausgabe von Robert Crumbs Klassiker „Fritz the Cat“, verächtlich als „Comic-Muff-Typen aus Frankfurt“. Der US-Underground war ihn kein Bezugspunkt mehr.
Die Biografen sind mit Wertungen eher zurückhaltend, aber es ist eindeutig, dass sie Brinkmanns Kultstatus dekonstruieren und den schwierigen, zerrissenen Charakter des Protagonisten erhellen. Umso überrumpelnder erscheint das immer noch Suggestive und Geheimnisvolle von Brinkmanns Texten.
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