Küstenschutz in Großbritannien und den Niederlanden: „Das Wasser riss alles mit sich“
1953 tobte die Nordsee-Flut, tausende Menschen in den Niederlanden und Großbritannien starben. Jetzt gerät Hightech-Küstenschutz durch die Klimakrise an seine Grenzen.
N atürlich weiß Meneer Tiggelman noch, wie das damals war. Erst fünf Jahre alt war er, doch die Erinnerungen haben sich in sein Gedächtnis gegraben. Alles begann damit, dass der Vater auf die Toilette musste, irgendwann mitten in dieser Sturmnacht. Ehe er sich’s versah, stand er bis zu den Knien im Wasser.
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Während die Familie geschlafen hatte, war erst der Außendeich gebrochen, der Binnendeich folgte. Eilig weckte der Vater Frau und Kinder, und sie flüchteten sich in die oberste Etage ihres Hauses. Anderthalb Tage harrten sie dort aus, bis sie gerettet wurden. Zum Schluss kauerten sie sich auf dem Schrank zusammen, denn auch auf dem Speicher stieg das eisige Wasser.
In Oude-Tonge, einem Dorf mit 5.000 Einwohnern, 50 Kilometer südlich von Rotterdam auf der Insel Goeree-Overflakkee gelegen, verbergen sich in den stillen Straßen viele solcher Geschichten. Wer heute, wie Meneer Tiggelman, auf die 80 zugeht, erinnert sich an die Nacht zum 1. Februar 1953, als die Fluten im Südwesten der Niederlande 1.836 Leben kosteten. Kein Ort wurde schwerer getroffen als Oude-Tonge, wo 305 Menschen ertranken – fast ein Zehntel der Einwohner*innen. „Das Wasser kam von drei Seiten auf Oude-Tonge zu und riss alles mit sich“, steht auf einer Hinweistafel im Dorf.
Wie sehr die Katastrophe das Land und seine Menschen geprägt hat, zeigt sich in diesen Wochen vor dem 70. Jahrestag. Die vier Folgen der Dokuserie „Das Wasser kommt“ sind am Freitagabend ein Quotenrenner im TV-Programm. Die zweite Folge nimmt sich die Hintergründe der Flut vor und porträtiert den Wasserbau-Ingenieur Johan van Veen, der bereits in den 1930er Jahren warnte, die Deiche seien unzureichend. Sein Arbeitgeber, die Infrastrukturbehörde Rijkswaterstaat, wollte davon nichts wissen. Man warf ihm Panikmache vor und forderte ihn zum Schweigen auf.
Van Veen nahm das Pseudonym Doktor Kassandra an, unter dem er seine Warnungen weiter publizierte. Im Krieg, unter der deutschen Besatzung, war der Deichausbau kein Thema. Danach stand die Reparatur von Straßen und Brücken im Vordergrund. Also arbeitete van Veen auf eigene Faust an einem kühnen Plan: die Meeresarme, die in den Provinzen Seeland und Südholland tief in das Land einschneiden, abzuschließen, um die Küstenlinie kürzer und kontrollierbarer zu machen. Doch als er den Plan am 29. Januar 1953 einreichte, war es zu spät. Draußen im Nordatlantik braute sich ein Sturmtief zusammen, das ungeheure Wassermassen vom Nordwesten her herunterschob.
Der Meister der Fluten
Kurz nach der Katastrophe wurde van Veens Konzept angenommen und Delta-Plan getauft. Man brief eine Kommission gleichen Namens ein, van Veen wurde ihr Sekretär. Internationale Medien geben ihm den Spitznamen „Master of Floods“, und eigentlich ist es seine Schuld, dass Meneer Tiggelman nun, 70 Jahre später, in Oude-Tonge steht und im Brustton der Überzeugung sagt: „Ich denke nicht, dass das Wasser hier noch mal hinkommt, mit diesen Deichen, die haben sie gut hochgezogen.“ Und wenn der Meeresspiegel steigt? Bereitet ihm das Sorgen? „Nein“, sagt er entschieden. So wie er sehen das viele im Dorf.
Um diesen scheinbaren Widerspruch zu begreifen, begibt man sich am besten an einen der Schauplätze, wo der Plan von Doktor Kassandra umgesetzt wurde. Die Delta-Werke bestehen aus insgesamt 13 Sturmflutwehren, Dämmen und Schleusen, verteilt über Küste und Hinterland, die damals überschwemmt wurden. 1954 begann der Bau, erst 1997 wurde das Projekt, bisweilen als achtes Weltwunder bezeichnet, abgeschlossen. Das letzte Glied in der Kette war ein Sturmflutwehr namens Maeslantkering. Es liegt am Nieuwe Waterweg, einem Kanal, der den Hafen von Rotterdam mit der Nordsee verbindet.
Selbst an einem diesigen Tag sind die gigantischen weißen Flügeltore noch auf mehrere Kilometer Abstand am Horizont zu sehen. Auf jedem der mit Windrädern bepflanzten Kanalufer ruht eines von ihnen. „Wir schützen hier gut zwei Millionen Menschen“, sagt Jeroen Kramer, der Manager der Anlage. „Und den Hafen von Rotterdam. Es ist der größte in Europa, wenn der überflutet würde, wäre das ein ganz enormer wirtschaftlicher Schaden.“ Kramer, 49, empfängt im Besucher*innenzentrum auf der rechten Seite des Kanals. Über die Fensterfront fällt der Blick auf das Flügeltor, an dem gerade eine Gruppe Interessierter aufmerksam vorbeigeht.
Allein das unterste, rohrförmige Element der Trägerkonstruktion ist bereits so groß wie ein Mensch. Kramer kann die Details wohl im Schlaf aufsagen: Höhe 22 Meter, Länge jeweils 210 Meter. Der Kanal ist 17 Meter tief und 360 Meter breit. Die geschwungenen Tore schließen schräg, um dem Wasser den Druck zu nehmen. Das geschieht im Übrigen automatisch, sobald für den Pegel der Maas in Rotterdam ein erhöhter Stand von drei Metern vorausgesagt wird. „Dieses Wehr ist der größte Roboter der Welt“, sagt Kramer. „Und es schließt erst bei drei Metern extra, um den Hafen so lange wie möglich in Betrieb zu halten.“
Es lohnt, sich das technische Prozedere dieses Sperrwerks zu vergegenwärtigen. Die Tore enthalten Luft und treiben dadurch auf dem Wasser. Im untersten Treibkörper befinden sich Klappen. Öffnen sie sich, werde die Tore mit Wasser gefüllt, sodass sie sinken und eine Wand bilden. Ebenso sind dort Pumpen angebracht, um das Wasser abzulassen, wenn das Wehr wieder geöffnet wird. All das geschieht computergesteuert. Erneut wirft man einen Blick auf dieses strahlendweiße Ungetüm und begreift: Man ist hier dem Pulsschlag, der dieses Land der Wasserbaukunst am Leben hält, sehr nah.
Verleitet das Wissen um solchen High-Tech-Hochwasserschutz eigentlich dazu, neue Gefahren zu unterschätzen? Vernimmt man darum an niederländischen Küsten und selbst im Katastrophengebiet von 1953 oft ein zuversichtliches Mantra, wenn man die Menschen auf den steigenden Meeresspiegel anspricht? Zu hören sind Antworten wie: „Wir leben hier schon immer und haben die besten Deiche der Welt, worum also sollten wir uns sorgen?“ Kramer nickt. „Es wiegt die Leute durchaus in Sicherheit.“
Wasserkatastrophen bis heute
Aus dieser Sicherheit wird man im Foyer des Besucher*innenzentrums abrupt gerissen. Denn eine Übersicht listet verheerende Flutkatastrophen auf, die die Deltaküste mit den Mündungen von Rhein, Maas und Schelde über viele Jahrhunderte heimsuchten. Die Opferzahlen lagen teils noch weit über jenen von 1953, die in die Tausende gingen. Und just wenn man diese historischen Begebenheiten als solche gespeichert hat, stutzt man: „2021, Überschwemmungen in Limburg“ berichtet eine nachträglich angebrachte Tafel. Kramer kommentiert warnend: „Im Ausland denkt man: ‚Die machen die Tore zu, und dann sind sie sicher.‘ Doch das Wasser kann nicht nur vom Meer, sondern auch von den Flüssen her kommen.“
Im Herbst 2021 korrigierten Experten des meteorologischen Instituts KNMI ihre Prognose zum Anstieg des Meeresspiegels. Nicht einen, sondern 1,20 Meter bis zum Ende des Jahrhunderts, selbst 2 Meter seien möglich. Anders als etwa das ikonische Wehr an der Osterschelde könnten die Delta-Werke einem solchen Anstieg standhalten, sagt Kramer. „Die technische Lebensdauer beträgt noch 50 Jahre. Was danach sein wird, kann niemand sagen.“
Die Zukunft also, sie liegt im Dunkeln, auch und gerade für die Meister des Wassermanagements in den Niederlanden. Doch die Prognosen zu Klimawandel und Seespiegel sorgen dafür, dass diesen 70. Jahrestag der Flut von 1953 eine andere, eine noch größere Dringlichkeit umgibt als das Gedenken zehn Jahre zuvor. Erinnern diese Warnungen an jene von Doktor Kassandra? Kramer findet das nicht. „Man kann nie sagen, wir sind zu 100 Prozent sicher. Aber wir haben den besten Hochwasserschutz der Welt.“
„Komm schnell, da ist überall Wasser“
„Die Wettervorhersage war schlecht“, erinnert sich Ray Howard an den Abend des 31. Januar 1953. „Dennoch gingen wir schlafen. Am frühen Morgen kamen meine Geschwister in mein Zimmer gestürmt und riefen: ‚Komm schnell, da ist Wasser auf der Straße und überall sonst.‘ Ich sah, wie das Wasser über die Straßen brauste. Man konnte alles gut erkennen, es war eine Vollmondnacht. Die Menschen schrien wild durcheinander.“ Howard, heute 81 Jahre alt, erlebte den Einbruch der Sturmflut als Kind auf Canvey Island, einer Insel in der trockengelegten Flussmündung der Themse vor der britischen Küste.
Seine Familie hatte vor der Sturmflut geglaubt, das Schlimmste im Leben überstanden zu haben. 1944 explodierte eine deutsche V2 neben ihrem Haus. Zwei der kleinen Brüder Howards und ein entfernter Verwandter kamen dabei ums Leben, während der Rest der Familie mit schweren Verletzungen davonkam. Weil sie alles verloren hatten, erhielt Familie Howard die Schlüssel zum allerersten Sozialwohnhaus der Insel – aus festem Backstein gebaut. Als 1953 die Sturmflut kam, bedeutete das Glück im Unglück, glaubt Howard heute, der damals elf Jahre alt war.
„Millionen über Millionen Liter Wasser ergossen sich von allen Seiten über die Insel“, erinnert sich ein anderer Zeitzeuge, Kommunalrat Dave Blackwell. Die Sturmflut sei so stark gewesen, dass sie einfach alles aus dem Weg drückte. „Alte, teils über 300 Jahre alte Schutzwälle aus Lehm, ein Polizist und die freiwillige Feuerwehr waren alles, was sich dem Wasser entgegenstellen konnte.“
Auch Blackwell, 75, weiß noch, wie seine Familie mitten in der Nacht geweckt wurde, weil die Alarmglocke der Freiwilligen Feuerwehr anschlug. „Mein Vater sprang auf sein Fahrrad und bemerkte, dass Wasser aus den Abwasserkanälen auf die Straße lief. Er drehte sofort zu um und forderte mich und meine Geschwister auf, sofort bei den Nachbarn anzuklopfen, um sie zu warnen. Dann eilte er zur Feuerwehrzentrale.“ Als Blackwell am Morgen aufwachte, glaubte er, es hätte geschneit, weil alles so hell war. Es war die sich im Wasser reflektierende Sonne.
„So weit ich sehen konnte, war überall Wasser mit darin schwimmender Kohle und leeren Mülltonnen. Meine Mutter sagte: Oh Gott, es gab eine Flut.“ Erst nach zwei Tagen wurden die Blackwells evakuiert, nachdem ein Großteil des Wassers abgelaufen war. „Ein Soldat kam und nahm mich auf seine Schulter. E setzte mich im Trockenen in einen Laster“, erzählt Howard. Er zieht ein verknittertes Schwarz-Weiß-Foto aus einem Ordner. Darauf ist eine Frau abgebildet, die mit zwei kleinen Kindern in einem Boot sitzt und gerade evakuiert wird: „Das sind meine Mutter und meine zwei jüngeren Brüder“, sagt Howard. Die Familie sei dann zu den Großeltern westlich von London gefahren.
Howard und Blackwell berichten, dass viele der 58 Menschen von Canvey Island, die in dieser Nacht ihr Leben verloren, sich zunächst auf die Dächer der einfachen Holzhäuschen und Bungalows retteten, soweit diese intakt geblieben waren „Die wenigen Kleidungsstücke, die sie trugen, als die Flut am frühen Morgen einbrach, reichten nicht aus, um sie im eiskalten Wind vor Kälte zu schützen. Diese armen Wichte starben an Hypothermie“, sagt Blackwell. Sein Vater habe Jahrzehnte gebraucht, um über das Erlebte sprechen zu können. „Das Wasser stand bei uns 1,70 Meter hoch. Ohne unseres festes Wohnhaus hätten wir wohl auch auf dem Dach eines Holzhäuschens gesessen oder wären von der Flut eingenommen worden“, sagt Howard.
Das Unglück hatte aber auch komische Aspekte, die sich heute gut erzählen lassen. Blackwells Onkel George kam Menschen mit einem Kanu zu Hilfe. Eine Frau sei ihm vor Ungeduld von der Fensterschwelle ihres Hauses einfach ins Boot gesprungen, das von dem Einschlag zusammenbrach. „So landeten sie alle im Wasser.“
1953 war nahezu die gesamte östliche Küste Großbritanniens von Südengland bis zu den schottischen Orkney-Inseln von der Sturmflut betroffen. Blackwell wohnt heute keine 100 Meter von der neuen Strandmauer entfernt. Er fühlt sich sicher. „Jetzt leben statt einigen tausend an die 40.000 Menschen hier. Wir haben den besten Schutz vor dem Meer in ganz England“, sagt er stolz und zählt die vielen Wehre und Strandmauern als Beweis auf. Gefahr bestünde dennoch, nicht wegen einer Sturmflut, sondern aufgrund der wegen des Klimawandels immer stärker werdenden Regenfälle. 2012 und 2014 kam es hier zu schweren Überschwemmungen.
Das Salz hat sich festgefressen
Stadtrat Gary Calver, 64, war 1953 noch nicht auf der Welt. Die Geschichte, wie seine Eltern in der Hafenstadt Harwich am nördlichsten Zipfel der Grafschaft Essex der Sturmflut begegneten, hat er jedoch etliche Male gehört. „Mein Vater war Schlagzeuger in einer Band. Er und meine Mutter kamen am frühen Morgen mit einem Taxi von einem Konzert nach Hause, als nach Schilderungen meiner Mutter plötzlich eine Wasserwand auf sie zu stürzte.“ Die beiden flüchteten mit dem Fahrer aus dem Taxi und konnten sich durch Wasser watend in Sicherheit bringen.
Neun Personen sollten in dieser Nacht in Harwich ihr Leben verlieren. Ihre tragischen Einzelschicksale werden heute im Stadtmuseum von Harwich dokumentiert. Ein Vater, der seine Frau und kleine Tochter aufgrund der Strömung nicht mehr greifen konnte; ein treuer Angestellter, der seinen Chef noch am Telefon fragte, was er denn tun solle, und später weit entfernt vom Arbeitsplatz ertrunken aufgefunden wurde. Ein Mann, der nicht mehr aus dem Keller kam, als sich die Luke über ihm geschlossen hatte; kranke bettlägerige Menschen, die im Erdgeschoss schlafend keine Chance hatten.
Auch hier gibt es Anekdoten. Eine Mutter, die ihren Sohn beschuldigte, den Wasserhahn nicht richtig repariert zu haben. Eine Großmutter, die Trifles für den Enkel buk und auf dem Tisch abstellte. Als sie ihr Haus nach der Sturmflut wieder betrat, lagen die Trifles immer noch auf dem Holztisch, die Sahne klebte an der Küchendecke.
In der Halle der Freimaurer in Harwich wurde schon vor vielen Jahren eine Tafel angebracht, die anzeigt, wie hoch das Wasser damals dort stand. Gemeindesekretär Ken Stapleton reicht sie bis Kopfhöhe. Er erzählt, dass das restliche Salz des Flutwassers sich bis heute in die Ziegelsteine und Holzrahmen der Häuser fresse.
Ein Teil von Harwich musste zum Schutz vor Seuchen und Diebstahl von Soldaten mit Stacheldraht gesichert werden. Lautsprecher verkündeten, dass das Leitungswasser nicht trinkbar sei. Viele Küstenbewohner erzählen, dass bei den Räumungsarbeiten Einsatzpläne aus der Kriegszeit reaktiviert werden konnten. Einer der ersten Aufgaben in Harwich soll die Suche durch Marinetaucher nach überschwemmten Gullys gewesen sein, um zu vermeiden, dass Menschen beim Waten durch das stehende Wasser aus Versehen hineinfallen.
Veranstaltungen zur Erinnerung an die Katastrophe sind zum 70. Jahrestag in zahlreichen Küstenstädten geplant, auch in Canvey Island und Harwich. Calver und andere Mitglieder der Geschichtswerkstatt Harwich Society bereiten im Stadtmuseum eine Sonderausstellung vor, während die Stadt den Platz, der an die Katastrophe erinnert, durch einen Garten verschönern ließ. Auf Canvey Island ist in der Stadtbücherei eine Sonderausstellung geplant sowie die Enthüllung einer neuen Erinnerungstafel.
Auf die Frage, was 1953 für die Hafenstadt Harwich bedeutet, haben alle die gleiche Antwort: Man müsse das Meer respektieren und dürfe ihm nie mit Gleichgültigkeit begegnen.
Nach 1953 führte die britische Environment Agency präzise Flutvorhersagen und Warndienste ein. Milliardenbeträge wurden seitdem entlang der Küste investiert, Maßnahmen gegen die Küstenerosion und zum Flutschutz, für die Pflege von schützenden Salzmarschen. Mit dem Themse Barrier wurde eines der größten Sturmflutsperrwerke zum Schutz Londons errichtet.
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