Künstlerin Liliane Lijn: Zum Ästhetischen hin oszillieren
Liliane Lijn ist Pionierin von Computerkunst und Lichtmalerei. Eine Ausstellung im Mumok Wien macht das Werk der 85-Jährigen wieder bekannt.
Langsam rollen zwei Plexiglaskugeln über eine flache, sich drehende Trommel aus Acryl. Wie Mondstein schimmert die größere, die kleinere durchsichtig-orange und ihre leuchtende Transparenz lässt die runden Formen zugleich flüssig und fest erscheinen. Bis auf das hohe, schnurrende Geräusch der Bewegung ist alles still in dem dunklen Vorführraum, und nur der Lichtstrahl einer kleinen Lampe ist auf die Szene gerichtet.
So gleicht das Setting einem wissenschaftlichen Experiment, das zum Ästhetischen hin oszilliert. „Liquid Reflections“ (1966–1968) heißt diese Arbeit von Liliane Lijn, die viel erzählt vom Brückenschlag der Künstlerin zwischen den physikalischen, ästhetischen, emotionalen und sozialen Phänomenen der Welt.
Dann wird die Bewegungskurve der Kugeln enger: Klack. Klack-Klack. Klack. Wie Billardkugeln stoßen sie sich voneinander ab, und das Spiel beginnt aufs Neue. Natürlich war der Aufprall abzusehen, die Schönheit dieses Augenblicks ist dennoch überwältigend: Was für ein Auflodern farbiger Schatten! Das Ganze lässt sich auch als visuelle Metapher verstehen. Als Einladung, über Zeit und Raum und Zufall nachzudenken.
Als Parcours in Szene gesetzt
Auch die übrigen Werke von „Arise Alive“, Lijns Wiener Überblicksschau, reflektieren ihre drei Lebensthemen – und das auch im direkten Wortsinn. Denn die von Kuratorin Manuela Ammer geglückt als Parcours in Szene gesetzte Ausstellung der britisch-amerikanischen Ausnahmekünstlerin fasziniert durch die vielen Spiegelungen, die expressiven Schlagschatten und Prismen, die in allen Farben des Regenbogens schillern, funkeln und strahlen:
Liliane Lijn: „Arise Alive“. Mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, bis 4. Mai 2025, Katalog, 38 Euro
„Inner Space“, „Double Drilling“, „Cosmic Flares“, „Two Worlds“, „The Beginning“, „Woman of War“, „Electric Bride“, „Lady of the Wild Things“ und „Poem Drum“, die Titel sind so prägnant und suggestiv wie die Werke selbst. Und immer beziehen Lijns auratische Zeichnungen, kinetischen Skulpturen, Kunststoff-Plastiken, Malereien, die überlebensgroßen Figuren aus Industrieabfällen oder die zarten Federmasken und Klangskulpturen den Raum mit ein und damit auch das Publikum.
Die 1939 geborene Liliane Lijn besuchte keine Akademie, doch hatte sie immer eine starke Vision: wie Prometheus sei die Künstlerin, „der den Göttern das Feuer stahl, um es den Menschen zu bringen“, wie sie im Gespräch sagt. „Feuer, unser wichtigstes Werkzeug. Für mich ist die Künstlerin eine, die Werkzeuge herstellt.“
Brennen für die Kunst
Als Kunstschule fungierten für sie vielmehr Begegnungen mit Künstlerkolleginnen und Schriftstellern in Athen, New York, Rom und Paris. André Breton, der französische Theoretiker des Surrealismus, ist der bekannteste unter ihnen. Dennoch legt Lijn bis heute keinen Wert auf die Prominenz ihrer Gesprächspartnerinnen, Hauptsache sie brennen für Kunst.
Vielleicht steht sie deshalb so souverän über den Moden: Sie arbeitet gleichzeitig traditionell und innovativ. Sie zeichnet seit ihren Anfängen als 19-Jährige mit Buntstiften und mit Letrafolie, malt mit Tusche, aber auch mit Licht und Elektrizität, mit neuen Kunststoffen und Plastikstiften; sie stellt Skulpturen mit Prismen aus Panzern her, aus Kupferdraht und Plexiglas, rotierenden Motoren und mineralischem Glimmer.
Unermüdlich erforscht sie dabei auch die physikalischen Eigenschaften des Materials und fügt es zu gewagten Neukombinationen. Die Bandbreite ihrer Ausdrucksformen ist beeindruckend, was vielleicht als Erklärung dafür dienen kann, dass ihr Werk erst jetzt, wo sie schon 85 ist, erstmals in diesem Umfang gezeigt wird.
Berühmt im Swinging London
Wäre sie bei der künstlerischen Sprache von „Liquid Reflections“ geblieben, mit der die junge Lijn im London der sechziger Jahre ihren „moment of fame“ erlebte, stünde sie vielleicht seit Jahrzehnten im Who’s who der zeitgenössischen Kunst. Wo sie auch hingehört. Als sich jedoch damals der Kulturbetrieb auf sie stürzte, wich ihre anfängliche Begeisterung sehr schnell einer Leere: „Alle wollten dasselbe von mir sehen und hören“, erklärt sie.
„Und ich kam mir vor wie eine Schallplatte, die einen Sprung hat. Da machte ich eben etwas völlig anderes.“ Ohne den Wiedererkennungswert ihrer Arbeit ebbte der Hype um sie ab. Zwar wurden einzelne Werke in England, den USA und Italien gezeigt, doch im deutschsprachigen Raum ist Lijns inspirierendes Œuvre kaum bekannt.
„Arise Alive“ wird dies ändern. Die Schau wurde von Manuela Ammer gemeinsam mit Emma Enderby entwickelt, inzwischen Leiterin des Berliner KW und bis April vergangenen Jahres Hauptkuratorin am Münchner Haus der Kunst. Hier startete die Ausstellung 2024, bevor sie nach Wien weiterzog.
Dass ihr erster großer Auftritt ausgerechnet in diesem, 1937 eröffneten Nazibau stattfand, freut die Künstlerin. Denn Liliane Lijns jüdische Eltern flohen 1939 vor der antisemitischen Bedrohung aus Europa, was dem Motto „Arise Alive“ zusätzlich Brisanz verleiht. Entliehen ist der Ausstellungstitel einer ihrer Poem-Sculptures.
Und „Worte“, notierte die Künstlerin als junge Frau in ihr Tagebuch, „sind Fenster ins kollektive Gedächtnis“.
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