Künftiger Premier Großbritanniens: Boris Johnson am Ziel
Großbritanniens Konservative küren den Brexit-Wortführer zum neuen Premierminister. Aber nachdem die Partei ihn gewählt hat, könnte sie ihn lahmlegen.
Mit 92.153 Stimmen – 66,4 Prozent – hat Boris Johnson die Urwahl um die Parteiführung für sich entschieden, fast eine Zweidrittelmehrheit. Nach einem TV-Bericht hatte sein Gegner Hunt, der sich für viel kompetenter hält, bis zuletzt auf einen Überraschungssieg gehofft und erwogen, eine Neuauszählung zu verlangen. Dann landete er bei 46.656 Stimmen und 33,6 Prozent. An der Briefwahl beteiligten sich 87,4 Prozent der 159.320 stimmberechtigten konservativen Parteimitglieder.
Jeremy Hunt, der amtierende Außenminister, sprang als Erster auf und gratulierte Johnson herzlich. Sie beide wissen: Es geht jetzt darum, eine an den Rand der Spaltung getriebene konservative Partei wieder zusammenzuführen. Nicht nur der lähmende, fast zwei Monate währende parteiinterne Wahlkampf hat die tiefen Gräben in der ältesten Regierungspartei Europas offengelegt. Die dreijährige Amtszeit Theresa Mays, die jetzt zu Ende geht, und der alles überlagernde Streit um den Brexit haben die Tories zerfleischt, den Staat gelähmt, das Land handlungsunfähig gemacht und die Gesellschaft polarisiert.
„Deliver Brexit; Unite the country; Defeat Corbyn“ – dieser Dreiklang war Johnsons Wahlkampfmotto, und er griff auch in seiner kurzen Siegesrede darauf zurück. „DUD“ hatte dieses Programm intern geheißen – die Abkürzung ist zugleich das englische Wort für „Rohrkrepierer“. Johnson tönte jetzt, er werde einen vierten Punkt hinzufügen: „Energize the country“ – neue Energie für das Land. Der Zusatz, dass sich damit auch ein Premier Johnson vom „dud“ zum „dude“ verwandeln soll, war gar nicht nötig.
Über seine genauen Pläne wird Boris Johnson erst Auskunft geben, wenn er am Mittwoch tatsächlich das Amt des Premierministers übernimmt und danach seine neue Regierung bildet. Eine nichtöffentliche Fraktionssitzung am Dienstagabend dürfte das alles in einer Weise vorbereiten, die innerparteilichen Schaden in Grenzen hält. Die Partei ist derzeit geradezu krampfhaft um Versöhnlichkeit bemüht.
Im Queen-Elizabeth-Konferenzzentrum flehte Fraktionsführer Charles Walker, der die Veranstaltung eröffnete, die anwesenden Parlamentarier und Parteigrößen an, „zum nächsten Premierminister netter zu sein als zur letzten Premierministerin“. Kurz zuvor hatte Theresa May in 10 Downing Street ihre letzte Kabinettssitzung geleitet, zu deren Abschluss die versammelten Minister ihr eine Liberty-Handtasche und eine Lalique-Halskette schenkten, nachdem sie gemeinsam 1.500 britische Pfund für ein Abschiedsgeschenk zusammengelegt hatten.
Nur noch drei Mandate Mehrheit
Aber auch in verordneter Harmonie sind die Hürden dafür, dass Boris Johnson als Premierminister überhaupt irgendetwas umsetzen kann – egal was –, immens. Die konservative Parlamentsfraktion schmilzt derzeit dahin wie Polareis im Klimawandel. Selbst gemeinsam mit der nordirischen DUP hält sie eine Mehrheit von nur noch drei Mandaten. Es waren ursprünglich fünf, aber zwei konservative Abgeordnete sind jüngst von ihren eigenen Wählern wegen Rechtsverstößen abgesetzt worden. Damit stehen zwei Nachwahlen an, nach denen Johnsons Mehrheit auf einen Sitz schrumpfen dürfte: der walisische Wahlkreis Brecon & Radnorshire dürfte am 1. August an die Liberaldemokraten verloren gehen (siehe Seite 5), wenige Wochen später könnte Dover an die Brexit Party fallen.
Ohne Mehrheit im Parlament ist es schwer für Boris Johnson, sein Wahlkampfversprechen einzulösen, den Brexit pünktlich zum derzeit gültigen Austrittstermin 31. Oktober zu vollziehen, ob mit Abkommen oder ohne. Ein No-Deal-Brexit braucht zwar keine ausdrückliche Zustimmung des Unterhauses, denn er ist bereits im geltenden Brexit-Gesetz enthalten. Aber wenn im Parlament eine Mehrheit dieses Gesetz gegen den Willen der Regierung verändert, sieht die Sache anders aus. Zwar wären dafür erhebliche Verrenkungen der Geschäftsordnung nötig, aber Parlamentspräsident John Bercow ist da erfindungsreich.
Boris Johnson kann das dadurch erschweren, dass er in der fraglichen Zeit in den letzten drei Oktoberwochen – wenn die Abgeordneten von den Jahresparteitagen ihrer Parteien nach Westminster zurückgekehrt sind – keine einzige Abstimmung ansetzt, damit es keine Gelegenheit für irgendwelche Anträge gibt, oder indem er die Sitzungsperiode ganz aussetzt, was legal, aber kontrovers wäre. Ein Teil der eigenen Partei dürfte dann in Versuchung kommen, ihn zu stürzen. Deswegen rechnen die meisten politischen Beobachter mit baldigen Neuwahlen in Großbritannien – und vermuten, dass Boris Johnson die lieber selbst ansetzt, als darauf zu warten, dass das Parlament ihn entmachtet.
Paternalist, der Wohlgefühl verbreiten will
Johnsons ständige Aufrufe zu mehr Optimismus und Energie sind auch am ehesten als Wahlkampfmodus zu verstehen, nicht als Regierungsmodus. Und hier schimmerte am Dienstag der alte Boris Johnson durch, der schon immer Premierminister werden wollte, der jahrelang einer der beliebtesten Politiker des Landes war: kein Donald Trump, sondern eher ein Ronald Reagan, kein Scharfmacher wie Nigel Farage, sondern ein Paternalist, der Wohlgefühl verbreiten will, statt Gräben aufzureißen.
„Wir Konservative haben die beste Einsicht in die menschliche Natur und darin, wie man die widerstreitenden Instinkte des menschlichen Herzens bändigt“, sagte Johnson in der einzigen wirklich inhaltlichen Passage seiner Rede. „In den letzten 200 Jahren waren es wir Konservative, die am besten verstanden haben, wie man diese Instinkte harmonisch zusammenwirken lässt.“ Historisch sei es um den Ausgleich zwischen privatem Besitz und sozialer Solidarität gegangen. Jetzt gehe es um die Vereinbarkeit zwischen Freundschaft mit Europa und „demokratischer Selbstbestimmung in diesem Land“.
Man dürfe sich da nicht entmutigen lassen, rief Boris Johnson. „Seht ihr entmutigt aus? Fühlt ihr euch entmutigt? Ich finde nicht, dass ihr auch nur ansatzweise entmutigt aussieht.“ Es war der Auftritt eines Parteichefs, der seine Anhänger auf Wahlkampf einschwört. Am Mittwoch kommt der Regierungschef an die Reihe. Das wird schwieriger. Wird Johnson ein „großer Premierminister“, wie der unterlegene Hunt ihm nach seiner Niederlage schmeichelte? Er könnte seinen Zenit als Hoffnungsträger der Konservativen, die sich nach gemütlicheren Zeiten zurücksehnen, schon überschritten haben.
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